Direkt zum Hauptbereich

Über wertschätzendes Feedback

Image by athree23 from Pixabay 
Gestern machte der Azubi des Kindergartens die Übergabe. Marie habe morgens, als gerade kein Erzieher bei ihr gewesen sei, ein anderes Kind gehauen. Das habe er zum ersten Mal so gesehen und es habe ihn „total geschockt“. Man habe ihm dann aber erklärt, dass das wohl bei Autisten normal sei, dass sie so Ursache-Wirkung erkundeten.

Hm. Die Aussage hat mich getroffen und den ganzen Heimweg kämpfte ich mit Tränen. Vielleicht könnt ihr das nachempfinden, vielleicht erscheint euch meine Reaktion auch übertrieben. Es ist doch wichtig, dass wir Eltern ehrliche Rückmeldung bekommen. Er hat es ihr doch nicht übel genommen! Wie soll er es denn auch sonst sagen?

Marie haut regelmäßig, aus unterschiedlichsten Gründen, mal zur Kontaktaufnahme, mal zum Grenzen setzen, mal aus Wut. Das macht mich traurig. Was mich dieses Mal jedoch so aus der Fassung brachte, war, das „total geschockt“ gepaart mit dem Unvermögen mir noch etwas anderes aus Maries Kindergartentag zu berichten. In meinem Kopf sah ich ein Mädchen, dass andere Kinder schlug, einsam war und ... tja, da ich keine weitere Information hatte, blieb es bei diesem Bild.

Hätte ich einen Wunsch frei in Bezug auf Maries Umfeld, dann wünschte ich mir eine wertschätzende und ressourcenorientierte Grundhaltung. Und zwar immer: im Kontakt mit Marie, genauso im Kontakt mit mir. Wer hier schon länger mitliest, weiß, wie wichtig mir das ist. Mein erster Artikel handelte vom richtigen Wording unserer Logopädin; zwischendrin hielt ich meine Wünsche an Erzieher und Therapeuten fest und erzählte euch über meine Idee von bedürfnisorientierter Therapie. Das kommt nicht von ungefähr, denn die Tage, an denen ich am stärksten Verzweiflung, Hilflosigkeit und Ohnmacht spüre, sind die, an denen ich den Eindruck habe anzuecken. An denen ich den Eindruck habe, dass Marie „zu krass“ ist, dass andere Menschen nicht mitbekommen, wie viel Freude und Liebe in meinem Kind steckt. Ich bin diesbezüglich empfindlich, ich bilde mir ein, feinste Nuancen beim Gegenüber zu entdecken.

Das Gegenüber ist da manchmal weniger zimperlich. Nicht aus Böswilligkeit, sondern aus der Naivität heraus, dass wir Eltern (oder zumindest ich) das schon wegstecken könnten. Erzieher und Therapeuten realisieren manchmal gar nicht, wie viel Macht sie über mich haben. Dass jedes Wort ins Herz geht und dort seine volle Wirkung entfaltet. Ein unbedarftes „total geschockt“ sitzt. Ein naives „aber das wissen Sie als Mutter ja selbst, dass Marie das nicht kann“ auch (ja, ich weiß es, aber wo liegt der Mehrwert dieser Aussage?). Strahlt mich das Gegenüber hingegen an und berichtet von einem schönen Moment, dann hopsen Marie und ich lachend und unbeschwert(er) nach Hause. Natürlich kann man nun sagen, dass man sich unabhängiger von den Aussagen Anderer machen sollte, und das ist sicher wahr. Auch die berühmte Goldwaage, auf die man Worte legen kann, könnte man hier anführen. Und vielleicht sogar auch: Das Leben ist kein Ponyhof (rw).

Gleichzeitig kann man einfach, schnell und kostenlos Eltern ein Stück der Last, die sie tragen, abnnehmen. Wenige Worte und Formulierungen reichen, man muss dabei weder lügen noch bagatellisieren. Und das Beste: ich glaube, alle würden davon profitieren:

Hier also mein 1x1 des guten Feedback-Gebens:

1.  Mache dir vorher Gedanken, was du sagen möchtest.
2.  Beschreibe das, was war, am besten ohne starke Adjektive (wie „heftig“, „krass“) oder Bewertungen (wie „böse“, „übertrieben“)
3. Gebe, falls sinnvoll, deine Interpretation des Ganzen.
4. Zeige Perspektiven auf.
5. Erzähle auch etwas, was gut lief.

Konkret: “Marie hat heute morgen einen Jungen gehauen. Ich bin mir nicht sicher, was der Grund war, ich glaube, sie wollte feststellen, wie seine Reaktion ist. Morgen werde ich Marie begleiten, wie sie anders mit dem Jungen in Kontakt treten kann. So eine Veränderung wird dauern, aber wir haben ja Zeit. Später hatte Marie wieder viel Spaß beim Schere schneiden. Sie sagt ja mittlerweile richtig gut „Schere“ und schneidet gerade Linien. Toll! In der Küche hat sie ein neues Wort gebraucht, ich weiß aber nicht genau, was das heißt. Wissen Sie, was Kulleku ist?“

Kommentare

Beliebte Einträge

Über das Selbstwertgefühl bei (neurodivergenten) Kindern

In meiner Arbeit als Psychotherapeutin kommt bei fast allen Patient*innen früher oder später das Thema Selbstwertgefühl zur Sprache. Zu Hause als Mutter frage ich mich, wie ich meine autistische Tochter darin unterstützen kann, ein stabiles Selbstwertgefühl zu entwickeln- in einer Welt und einem Alltag, der ihr immer wieder zeigt, dass sie "anders" ist.  Eine kleine, aber wichtige Alltagsbeobachtung Letzte Woche bei der Ergotherapie beobachtete ich folgende Szene: Eine Mutter unterhielt sich in Anwesenheit ihrer ca. siebenjährigen Tochter über die Therapiestunde mit der Ergotherapeutin. "Sie hat sich heute richtig gut konzentriert", meinte die Therapeutin und die Mutter antwortete: "Oh wie schön, dann hatte sie heute also einen guten Tag."  Warum schreibe ich über diese Beobachtung und was hat sie mit Selbstwertgefühl zu tun? In der Psychologie sprechen wir von Attributionen, also von Ursachenzuschreibungen. Es ist ein spannendes Feld, denn e

Die Sache mit der Nonverbalität

Image by  Gerd Altmann  from  Pixabay   Kinder beim sprechen lernen zu beobachten macht mir riesige Freude. Paula reißt die witzigsten Sprüche ("Mama sagt nein. Ich sage doch!") und immer größer werden die Einblicke, was in ihrem kleinen Kopf alles vor sich geht. Marie ist mit ihren bald 4 Jahren noch ein ganzes Stück davon entfernt, mir auf verbalem Wege sagen zu können, was sie beschäftigt. Jeder Zwei-Wort-Satz ist hart erkämpft und bleibt für Außenstehende doch oft unverständlich. Es bedarf viel Einfühlungsvermögen, viel genaues Hinhören und manchmal auch ein wenig Fantasie, um Maries Laute und Worte in einen Zusammenhang zu bringen. Anderen Eltern ist diese Problematik bewusst und können mitfühlen. Ich glaube jedoch, dass die tatsächlichen Schwierigkeiten, die durch eine Sprachentwicklungsverzögerung entstehen, oft anders, manchmal auch größer, sind als sich Nicht-Betroffene das vorstellen können. "Nur weil Marie nicht spricht, heißt es nicht, dass sie dich

Kliniktagebuch: Wochen 2 und 3: Ein Zwischenfazit

Nun ist die Reha schon fast wieder vorbei. Mittlerweile sind wir gut im Klinikalltag ankommen, auch wenn Marie häufig wenig Lust auf die Angebote hat und lieber kuscheln möchte. Durch liebevolles Zureden, Bildkarten und Erklärungen lässt sie sich aber meistens doch auf die Aktivitäten ein und hat dann viel Spaß daran. Auch sonst habe ich einiges beobachten und erfahren dürfen, was ich sicher ohne Reha nicht erkannt hätte - über Erziehungsstile, Kinderzeit und echte Teilhabe. Andere Eltern- andere Sitten Wenn ich durch Marie eines gelernt habe, dann, dass man nicht über einen Anderen urteilen soll. Jede Familie hat andere Stärken und Schwächen, hat andere Probleme und Ressourcen. Hier in der Rehaklinik sehe ich, wie weit das Spektrum ist ... damit meine ich nicht die Kinder, sondern die Eltern. Sie unterscheiden sich substanziell von der Blase, in der ich mich zu Hause befinde und es fällt mir wirklich schwer, sie nicht zu bewerten. Wer weiß, wie ich in ein paar Jahren als Mutter