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Über Traurigkeit

Postkarte von Jonna

Und manchmal, da bin ich einfach traurig.

Wenn ich die Rückmeldung aus dem Kindergarten bekomme, dass Marie ein anderes Kind gehauen hat, werde ich traurig. Nicht wütend oder ärgerlich, ich schäme mich auch nicht oder bin enttäuscht, nein, ich bin einfach traurig.
Traurig darüber, dass Marie noch keine ausreichenden Alternativen kennt, um ihre Gefühle, Wünsche und Gedanken zu äußern. Traurig, weil sie nicht versteht, dass sich Menschen abwenden, wenn man dauerhaft nicht die sozialen Regeln befolgt. Traurig, denn ich wünschte mir, dass mein Kind fröhlich mit anderen Kindern spielte.

Traurigkeit gehört zu den unangenehmen Gefühlen, die, die man am liebsten vermeiden möchte. Dabei hat auch die Traurigkeit so viel Sinn! (Wer mag, darf an dieser Stelle kurz inne halten und sich fragen, was die Funktion von Traurigkeit eigentlich ist.)

Die Funktion der Traurigkeit

Traurigkeit verrät uns viel über unsere Wünsche und Bedürfnisse. Sie ist damit ein Wegweiser für das, was wir nicht (mehr) haben, was wir aber gerne hätten. Wenn wir uns die Situationen betrachten, die uns immer wieder traurig machen, dann erfahren wir viel über uns, unsere Werte und Bedürfnisse.

Darüber hinaus ist Traurigkeit ein soziales Gefühl, denn wenn mein Gegenüber erkennt, dass ich traurig bin, werde ich (hoffentlich) getröstet. Wer zeigt, dass er traurig ist, erfährt (hoffentlich) die Zuwendung, die er oder sie braucht.

Die dritte, und vielleicht zunächst unbefriedigendste, Funktion der Traurigkeit ist, dass sie uns ermöglicht anzukommen. Hö?, denkst du? Traurigkeit und Ankommen? Wie passt das zusammen? Wenn man traurig ist (und damit meine ich die situationsbezogene, nicht die überdauernd depressive), und diese Traurigkeit zulässt, dann hilft sie uns, Dinge anzunehmen. Im Gegensatz zur Wut, die uns energetisiert, die uns kämpfen lässt, führt die Traurigkeit zur Ruhe. Zu der Erkenntnis "Ja, das ist jetzt so". Und manche Situationen müssen eben akzeptiert werden, auch wenn das erst mal weh tut.

In Foren lese ich häufiger die Aussage, wenn Eltern über ihre Verzweiflung nach einer Diagnose berichten: "Sei nicht traurig [Was für eine absurde Aufforderung!]! Dein Kind ist noch immer das gleiche." Obwohl das natürlich stimmt, finde ich, dass dieser Trostversuch in die falsche Richtung zielt. Ich glaube nicht, dass die meisten Eltern das Kind als solches betrauern. Sie sind vielmehr traurig, dass manches eben anders laufen wird. Sie sind vielleicht traurig, dass sie nicht oder anders in ihren Beruf zurückkehren können. Sie sind vielleicht traurig, dass es ihr Kind vermutlich schwerer haben wird als Andere. Sie sind vielleicht traurig, dass sie zu den oberflächlichen "Latte Macciato Gesprächen" anderer Mütter gerade nicht viel beizutragen wissen.
Und das ist ok. Diese Traurigkeit hilft, die aktuelle Realität anzunehmen und ist daher absolut wichtig um sich und dem Kind gerecht zu werden. (Man stelle sich vor, man würde nicht traurig werden und weiter machen wie bisher. Das Risiko, das eigene Kind in eine Schablone rein zu zwängen, in die es nicht passt, wäre ungleich größer.)

Mein Umgang mit Traurigkeit

Ich glaube also, dass Traurigkeit ihren Platz hat. Die Frage ist aber, wo. Denn im Alltag, wenn meine Mädels durch die Wohnung hüpfen, hungrig sind oder abends ins Bett gebracht werden müssen, da kann und will ich nicht traurig sein. Da heißt es oft, Zähne zusammen beißen (rw). Da ich sehr nah am Wasser gebaut bin (rw), habe ich mir über die Jahre verschiedene Strategien angeeignet.

Wenn ich merke, dass mir die Tränen in die Augen schießen, denke ich an........... REWE.
Rewe? Ja, genau, richtig gelesen, ich denke an dieses große rote Logo mit weißer Schrift. Ich sehe es vor einer Filiale meiner Kindheit. Und zack, werde ich ein klein wenig ruhiger. Klingt banal? Ist es auch, und genau deshalb so wirksam. Ich lenke meine Aufmerksamkeit auf etwas vollkommen anderes, etwas so alltägliches, banales und (ganz wichtig) neutrales, dass ich mir ein paar Sekunden verschaffe, mich zu sammeln. REWE. Rotes Logo. Weiße Schrift. Einatmen, ausatmen. REWE. Häufig reicht dieser kurzer Moment um mich so zu beruhigen, dass ich besonnen(er) handeln und denken kann.

Genau so helfen mir die Mutmachmantras und mein Positivtagebuch. Ich erinnere mich an all das Gute, was wir haben und was uns widerfährt. Leider ist unser Gedächtnis darauf trainiert, Erinnerungen, die zu dem aktiven Gefühl passen, schneller abzurufen. Im Fachchinesisch nennt sich das "mood congruent memory" (kleiner fun fact am Rande: Wenn man unter Alkohol seinen Schlüssel verliert, findet man ihn auch unter Alkoholeinfluss schneller wieder - nennt man dann "state dependent memory" ;-) ). Heißt: Es fällt umso schwerer, sich an die guten Seiten zu erinnern, wenn man traurig ist. Das erklärt auch, warum wir Therapeuten so gerne darauf beharren, Erkenntnisse und positive Erlebnisse schriftlich festzuhalten- und warum ich mein Positivtagebuch immer auf dem Handy dabei habe.

Mein dritter Trick ist, meine Gedanken aufzuschreiben. Ich ordne und verstehe und werde automatisch ruhiger. Wenn die Kinder bei mir sind, schreibe ich diese Blogartikel in Gedanken. Und siehe da, das ist das Ergebnis.

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