Direkt zum Hauptbereich

Über die großen kleinen Alltagsfreuden

Photo by Plush Design Studio from Pexels

Mamasein ist nie nur positiv oder nur negativ. Es gibt herzerwärmenden Momente genauso wie Unwettertage. Mir fällt auf, dass es oft von unserer inneren Haltung abhängig ist, wie gut oder schlecht wir einen Tag bewerten.

"Gestern warf Marie mal wieder ihre Stifte wild durch die Gegend und - da wir die Regel haben: Wer etwas runter wirft, muss es wieder aufheben - das anschließende Aufheben war ein ziemlicher Kampf."

Sieht man diese Aussage allein, so könnte man denken, dass die ganze Situation ziemlich nervig für alle Beteiligten gewesen sein muss. Würde man nur das Ende sehen (Stifte durch die Gegend geworfen), würde man sich aufregen, man wäre vielleicht auch enttäuscht, wütend oder traurig.

Ich will euch aber die ganze Geschichte erzählen:

Gestern rief Marie "Mama" (Jubelmoment Nr. 1), zeigte auf Papier (Jubelmoment Nr. 2) und machte einen Laut, der nach "haben" klang (Jubelmoment Nr. 3). Ich fragte: "Möchtest du das Papier haben?" und sie antwortete "Ja" (Jubelmoment Nr. 4). Mit der entsprechenden Gebärde für Malen fragte ich sie, ob sie malen wolle. Sie imitierte die Gebärde (Jubelmoment Nr. 5) und lief an den Tisch. Marie kritzelte konzentriert auf dem Papier (Jubelmoment Nr. 6)  und ich malte eine Blume. Marie sagte "Bl"- ihr Wort für Blume (Jubelmoment Nr. 7). Kurze Zeit später hatte sie keine Lust mehr und warf die Stifte durch die Gegend. Wir brauchten lange, bis sie die Stifte wieder einsammelte, aber am Ende waren alle wieder in der Dose (Jubelmoment Nr. 8).

Acht echte Jubelmomente!, denn nichts davon ist selbstverständlich. 27 Monate habe ich auf das erste zielgerichtete "Mama" gewartet und egal ob beide Kinder mich wirklich sehr viel rufen, mein Herz schmilzt (RW) weiterhin bei jedem "Mama". Es ist das schönste Wort der Welt! Auch dass Marie zeigt und imitiert ist großartig, dass sie sogar versucht Wörter zu sprechen, ist der Oberknaller! Sie kommuniziert auf ihre Weise und sie und ich freuen uns, dass wir einander verstehen. Klar, es wäre schön, wenn sie nicht die Stifte geworfen hätte, aber möchte ich mir davon dieses tolle Ereignis kaputt machen lassen?

In der Psychotherapie nennen wir gedankliche Verzerrungen auch "Denkfehler". Das "Alles-oder-nichts" Denken gehört dazu: Entweder alles ist toll oder überhaupt nichts. Wenn die Tage anstrengend sind, neigen Menschen manchmal dazu, den Blick auf die vielen kleinen Freuden des Alltags zu verlieren. Nach den letzten harten Wochen habe ich das auch bei mir bemerkt. Also habe ich mich überredet das zu tun, was ich auch meinen Patienten aufgebe: Mich hinzusetzen und aufzuschreiben, was denn alles gut war in unserem Alltag. (Aufschreiben ist tatsächlich besser als gedankliche Aufzählungen- da triftet man zu schnell ab und man hält auch kein Ergebnis in den Händen). Denn ganz wichtig: Es ist meine Aufgabe - nicht Maries! - meine Wahrnehmung auf all das zu richten, was gut läuft.

P.S.: Unter #diegrossenkleinenalltagsfreuden findet ihr in den kommenden Tagen Auszüge unser Jubelmomente bei Instagram (@a_variation_of_normal).

Kommentare

Beliebte Einträge

Über das Selbstwertgefühl bei (neurodivergenten) Kindern

In meiner Arbeit als Psychotherapeutin kommt bei fast allen Patient*innen früher oder später das Thema Selbstwertgefühl zur Sprache. Zu Hause als Mutter frage ich mich, wie ich meine autistische Tochter darin unterstützen kann, ein stabiles Selbstwertgefühl zu entwickeln- in einer Welt und einem Alltag, der ihr immer wieder zeigt, dass sie "anders" ist.  Eine kleine, aber wichtige Alltagsbeobachtung Letzte Woche bei der Ergotherapie beobachtete ich folgende Szene: Eine Mutter unterhielt sich in Anwesenheit ihrer ca. siebenjährigen Tochter über die Therapiestunde mit der Ergotherapeutin. "Sie hat sich heute richtig gut konzentriert", meinte die Therapeutin und die Mutter antwortete: "Oh wie schön, dann hatte sie heute also einen guten Tag."  Warum schreibe ich über diese Beobachtung und was hat sie mit Selbstwertgefühl zu tun? In der Psychologie sprechen wir von Attributionen, also von Ursachenzuschreibungen. Es ist ein spannendes Feld, denn e...

Über Antworten, die zu einfach sind um wahr zu sein oder Die Frage nach der Schuld

Photo by  Teodor Savin  from  Pexels Gestern stieß ich auf eine Beratungsseite, die erklärte, die Ursachen für das Ausbrechen von chronischen Krankheiten genauso wie Autismus, ADHS und Ähnlichem seien Entwicklungstraumata, die wir Eltern (möglicherweise unbewusst und ungewollt) unseren Kindern antäten. Mich machen solche pseudowissenschaftlichen, hysterischen und schuldzuweisenden Aussagen unfassbar wütend. Und während dieser Account sicher extrem in seiner Sicht ist, so ist er gleichzeitig auch nicht allzu weit von dem entfernt, was ich auf anderen sozialen Kanälen lese. "Wenn du dein Kind nach xy erziehst, dann wird alles gut werden", so, mehr oder weniger, lautet die Botschaft vieler großer Accounts. Diese Aussagen, sie funktionieren ganz wunderbar für unser Ordnung- und Einfachheit liebendes Gehirn. Wenn-Dann-Aussagen geben Sicherheit und Kontrolle, und so unangenehm Schuld auch sein mag, so angenehm ist die Vorstellung, es wieder gut machen, ja, retten, z...

Wut

Photo by  freestocks.org  from  Pexels Wut, die stärkere Form des Ärgers, ist, so mein Empfinden, eines der Tabuthemen schlechthin. Und damit meine ich nicht die Wut auf die Gesellschaft, Behörden, Ämter und Ärzte (vermutlich wird fast jeder, der sich intensiver mit dem Gesundheitswesen auseinander setzen musste, diese Situationen kennen), nein, ich meine die Wut auf das Kind. Was? Wütend auf ein Kind sein? Dass doch gar nichts dafür kann? Um Gottes Willen! Ich weiß, dass dieser Post vielleicht harte Kost sein mag, aber vielleicht ist er daher genau so wichtig. Meine Haltung als Psychotherapeutin ist immer "Alle Gefühle sind erlaubt" (nicht zu Verwechseln mit "Alle Verhaltensweisen sind erlaubt"). Davon bin ich überzeugt, denn Gefühle, so unangenehm sie auch sein mögen, haben eine Funktion. Den meisten Menschen fällt es noch leicht herauszufinden, warum ein Mensch Angst hat (klar, die schützt einen vor Gefahren), welche Funktion Freude, Traurigkeit, Wut od...