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Über Supertherapeuten und andere Wunderwaffen



Ich liebe unsere neue Logopädin. Ich liebe es, wenn Marie strahlt, in dem Moment, wo ich ihr das Foto unserer Logopädin zeige und ihr sage, dass wir jetzt zu ihr fahren. Vorort wirft Marie schon auf dem Weg zum Behandlungszimmer ihre Jacke weg, zieht ihre Therapeutin ins Zimmer- man merkt: Sie will keine Sekunde verpassen. Die nächsten 45 Minuten gehören ihr und sie wird viel lachen und ganz nebenbei eine Menge lernen. In der gleichen Zeit spiele ich mit Paula im Wartezimmer. Und auch die Kleine freut sich, in den kommenden Minuten Mama-Exklusivzeit zu haben. Was mich aber vielleicht am meisten freut, ist, wenn Frau T. am Ende der Stunde strahlend berichtet, wie viel Spaß sie und Marie gemeinsam gehabt hätten. Sie sei ja "absolutes Marie-Fanclub-Mitglied", sie arbeite so gerne mit ihr zusammen, sie freue sich schon auf nächste Woche. Natürlich ist nicht jede Sitzung ein Riesenerfolg, aber es ist diese authentische Begeisterung und Frau T.s unermüdliche Ressourcenorientierung, die mein Herz höher schlagen lässt. 

Immer wieder wird einem als Mutter einer autistischen Tochter schmerzlich bewusst, was das eigene Kind nicht kann. Wo Grenzen sind, die manchmal unüberwindbar scheinen. Es sind die kleinen Worte und Gesten, die es leichter werden lassen. Ein paar Beispiele: Es macht einen Riesenunterschied, ob man hört "Das kann Marie nicht." oder "Das kann Marie NOCH nicht." Lautet die Rückmeldung "Heute hat sie sich verweigert" ist dies schwerer erträglich als "Heute brauchte sie mehr Zeit für sich."  Zwischen "Da sind große Defizite" und "Sie kann schon..."  liegen Gefühlswelten. Schaffen wir es, das Gute und die Kompetenzen in unseren Kindern zu sehen, erleben wir Hoffnung und Dankbarkeit.

Ich will nicht, dass man mir Dinge schön redet, aber ich will, dass auch die kleinen Schritte gesehen und gefeiert werden. Ich kenne meine Tochter und ihre Schwächen. Was ich brauche, ist ein Umfeld, das sagt "Hey, schau mal, da geht doch was!". Und vor allem sieht, was für ein toller Mensch Marie ist. Denn leider geht neben all den Diagnosen, Symptomen und Defiziten die Persönlichkeit eines Kindes schnell unter. 
Nicht so bei Frau T. Unsere Logopädin schafft es, Marie da abzuholen, wo sie steht. Sie interessiert sich für sie und wie selbstverständlich macht Marie all das, was Autisten meist schwerer fällt: Blickkontakt halten und mitverfolgen, Aufmerksamkeit teilen, zeigen und geben. Selbst ein paar Worte konnte Frau T. ihr schon entlocken. 

Am Ende der Sitzung gehen Tochter wie Mutter stolz wie Bolle nach Hause und freuen sich schon jetzt darauf, wenn sie nächste Woche wiederkommen dürfen.

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