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Was einen guten (Kinder-)Arzt und Therapeuten ausmacht

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Ich habe gerade einmal zusammengezählt. 29 verschiedene Ärzte und Therapeuten haben in den vergangenen 12 Monaten Marie untersucht, begutachtet und gefördert. Vermutlich sind es sogar mehr, ich habe sie nur eben vergessen. Neunundzwanzig. Die Zahl ist natürlich auch wegen der intensiven (Ausschluss-)Diagnostik und unseres Wohnortwechsels so hoch, aber trotzdem. Man stelle sich das mal vor: 29 Mal musste sich meine kleine Tochter fremden Menschen vorstellen. 29 Mal ein neues Kennenlernen. 29 Mal eine nicht unbedingt frei ausgesuchte Interaktion.

Und was soll ich sagen: Unter diesen 29 Begegnungen war alles dabei: Von Menschen, die mit so viel Herz und Engagement bei der Sache waren, dass man sie direkt mit nach Hause nehmen wollte und andere, bei denen man sich ernsthaft fragte, was sie in diesem Beruf zu suchen haben.

Eigentlich ist es ziemlich einfach mit Marie in Kontakt zu treten. Sie ist neugierig, offen und wenn man ihr ein tolles Spielzeug zeigt (am besten etwas, das blinkt und verrückte Töne macht), dann lässt sie sich gut darauf ein. Dennoch gingen einige Begegnungen nach hinten los. Ich mag an dieser Stelle nicht völlig objektiv sein, aber dieser Umstand lag oft nicht an meinem Kind, sondern vielmehr an der Art, wie die Person Marie gegenüber trat.

Ich habe versucht zusammenzutragen, was ich hilfreich und weniger hilfreich fand. Meine Mutter meinte einmal zu mir, ich sei (zu) ansprüchlich, was meine Wünsche an Maries Therapeuten betreffe. Irgendwie hat sie damit durchaus recht. Gleichzeitig dachte ich, als ich mir die Liste nochmal ansah: "Nee, eigentlich ist das nicht zu viel verlangt." Oder doch?

1. Begrüßt mein Kind

Die Wirkung des ersten Moments des Kennenlernens darf man nicht unterschätzen. Wer Marie freundlich begrüßt ("Hallo Marie, wie schön, dich kennen zu lernen!") und dabei lacht, der hat im Grunde schon alles richtig gemacht. Komischerweise vergessen das manche Ärzte und Therapeuten. Die wollen halt erst Mal mit der Mama reden und wundern sich, wenn sie von Marie anschließend ignoriert werden. Aber auch mein Kind hat Ohren und versteht mehr, als man vielleicht auf den ersten Blick vermutet.

2. Lasst ihr Zeit zum Ankommen

Neue Räume sind wahnsinnig aufregend. Marie will am liebsten alles sofort ausprobieren (manchmal durchaus zu meinem Leidwesen). Ich würde wetten, dass es keine Minute dauert, bis sie etwas findet, was sie fasziniert und schon hat man eine wunderbare Möglichkeit mit ihr in Kontakt zu treten. Marie freut sich nämlich durchaus, wenn man ihr Funktionen zeigt oder Dinge erläutert. Wer aber sofort mit noch so gut gemeinten Spielsachen auf sie zugestürmt kommt, bewirkt leider zweierlei: Marie ist erstens mit ihrer Aufmerksamkeit noch ganz woanders und fühlt sich zweitens ganz schön bedrängt. Vielleicht hilft es, sich selbst einmal zu fragen: Wir würdest du reagieren, wenn eine fremde Person dich ungefragt hoch nimmt, dir eine Tröte ins Gesicht bläst und dann auch noch erwartet, dass du das toll finden sollst? Eben. Was aber hilft, ist, wenn ihr sagt (oder für die Vollprofis unter euch: mit Bildkarten zeigt) was heute ansteht. Muss gar nicht lang sein („ich möchte gerne mit dir heute Ball spielen. Später können wir auch noch schaukeln“). Ihr helft Marie dadurch zu verstehen, was gerade passiert und sie wird es euch mit mehr Motivation danken.

3. Stellt sicher, dass alle (psychologischen) Grundbedürfnisse erfüllt sind

Apropos Brauchen: Dieser Punkt verwundert mich immer wieder. In der Psychotherapieausbildung (für Erwachsene, wohlgemerkt) lernten wir, wie wichtig es ist die Bedürfnisse unserer Patienten wahr- und ernst zu nehmen. Irgendwie dachte ich immer, dass sei in der Pädiatrie schon lange gang und gebe. Meine Erfahrung: Leider nicht.

Stattdessen werden manchmal Erwartungen an mein Kind gestellt, die würde man noch nicht mal an ein neurotypisches, altersgemäß entwickeltes Kind stellen. Wie kann man beispielsweise davon ausgehen, dass eine Zweieinhalbjährige einfach mit jemandem Fremden mitgeht, wenn ihre Bindungsperson nicht dabei ist? Ich finde es sehr gut und nachvollziehbar, wenn Marie in solchen Situationen meine Nähe sucht - es ist schließlich ein Zeichen für eine sichere Bindung. Manchmal scheint es mir, dass Therapeuten und Ärzte Bindung zwar "total wichtig" finden, die Bindung aber doch bitte außerhalb der Sitzung "stattfinden" soll. Was absurd klingt, ist auch genau so gemeint. Wir gewöhnen schließlich nicht umsonst unsere Kinder über Wochen nach dem Berliner Modell in Kitas ein. Wir wissen, dass Kinder erst Vertrauen fassen müssen. Das gilt zu Hause wie in der Kita wie in der Therapie.

Aber auch andere psychologische Bedürfnisse spielen eine Rolle. Viele Kinder, gerade Autisten, haben ein großes Bedürfnis nach Kontrolle. Situationen müssen vorhersehbar sein. Gerade deshalb funktionieren strukturierte Ansätze wie TEACCH so gut: Kinder erfahren auf eine für sie verständliche Weise was passiert und welche Anforderungen an sie gestellt werden. Auch in der Interaktion mit Kindern kann man gut erkennen, ob Therapeuten bereit sind, Kontrolle an mein Kind abzugeben. Marie wird weitaus besser mitarbeiten, wenn man ihr Optionen bietet, sie beispielsweise fragt, ob sie lieber dies oder jenes spielen möchte.

Damit sind wir auch schon beim nächsten Grundbedürfnis: Dem Lustgewinn. Kinder lernen schneller und arbeiten besser mit, wenn ihnen die Tätigkeit Spaß bereitet. Was simpel klingt, ist möglicherweise erst einmal ein Mehraufwand für den Therapeuten. Er muss herausfinden, was Marie Spaß macht und sich überlegen, wie er das gut einsetzen kann. Es bedarf Einfühlungsvermögen und vielleicht ein wenig Kreativität, aber es lohnt sich. Man darf schließlich nicht vergessen, dass es auch Ärzten und Therapeuten Freude bereitet, wenn sie in strahlende Kinderaugen blicken können.

Neben diesen drei Grundbedürfnissen nennt Grawe (den Therapieforscher, auf den ich mich hier beziehe) noch den Selbstwert. Gerade wenn Kinder nicht der Norm entsprechen, brauchen sie ein Umfeld, das ihnen vermittelt "Du bist gut so wie du bist". Dieses Thema liegt mir so am Herzen, dass ich ja schon einmal an anderer Stelle darüber berichtet habe.

Ich erwarte natürlich nicht, dass alle Bedürfnisse jederzeit und gleichermaßen erfüllt sein müssen. Ich wünsche mir aber, dass Ärzte und Therapeuten Respekt vor der Leistung ihrer kleinen Patienten haben: Die sind in neuen Situationen, müssen sich mit Misserfolgen und ihren Defiziten auseinandersetzen und manchmal Aufgaben erfüllen, auf die sie keine Lust haben. Ich wünsche mir außerdem, dass Therapieziele nicht auf Kosten grundlegender Bedürfnisse angegangen werden. Vielleicht geht manches damit langsamer. Aber was ist uns wichtiger: Ein Kind, was sich von der Außenwelt (und dazu gehören Therapeuten) gesehen und verstanden fühlt und damit die Erfahrung macht, dass es gut ist, wie es ist oder ein Kind, dass trotz Unwohlsein die Ziele des Therapeuten abarbeitet? Ich glaube, die Antwort ist klar.

4. Stellt realistische Erwartungen

Marie will lernen. Regelmäßig holt sie ihre Kiste mit Fördermaterialien aus dem Schrank und rennt damit zum Tisch. Sie kann auch sehr ausdauernd sein, wenn sie etwas wirklich interessiert. Interessiert es sie nicht, überfordert sie es oder erschließt sich ihr nicht der Sinn dahinter, fliegt das Material aber auch durch die Gegend. Ich glaube, es ist gar nicht so einfach, Kinder da abzuholen, wo sie stehen. Tagesform, Vertrauen und Themengebiete spielen eine Rolle. Aber eben auch das Fingerspitzengefühl des Gegenübers die richtigen Anforderungen zu stellen. Ich stelle beim Erstgespräch mit einer Anorexie-Patientin ja auch kein Stück Sachertorte auf den Tisch und sage "Na, dann hauen Sie mal rein!". Genauso wenig können wir von Marie erwarten einen Entwicklungstest zu absolvieren, wenn nebenbei ein Ventilator an ist.
Vermutlich ist dies ein Punkt, der Zeit und gegenseitiges Kennenlernen benötigt. Und das nötige Know-How verlangt. Ich wünsche mir, dass Ärzte und Therapeuten, die sich mit Autismus (noch) nicht auskennen, das offen zugeben, sich weiterbilden oder uns an jemanden weiter verweisen, der darin besser ausgebildet ist. Auch Ärzte und Therapeuten dürfen mal überfragt sein. Ein guter Arzt oder Therapeut merkt dies und sucht sich entsprechend Unterstützung.

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