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Kliniktagebuch: Wochen 2 und 3: Ein Zwischenfazit


Nun ist die Reha schon fast wieder vorbei. Mittlerweile sind wir gut im Klinikalltag ankommen, auch wenn Marie häufig wenig Lust auf die Angebote hat und lieber kuscheln möchte. Durch liebevolles Zureden, Bildkarten und Erklärungen lässt sie sich aber meistens doch auf die Aktivitäten ein und hat dann viel Spaß daran. Auch sonst habe ich einiges beobachten und erfahren dürfen, was ich sicher ohne Reha nicht erkannt hätte - über Erziehungsstile, Kinderzeit und echte Teilhabe.

Andere Eltern- andere Sitten

Wenn ich durch Marie eines gelernt habe, dann, dass man nicht über einen Anderen urteilen soll. Jede Familie hat andere Stärken und Schwächen, hat andere Probleme und Ressourcen. Hier in der Rehaklinik sehe ich, wie weit das Spektrum ist ... damit meine ich nicht die Kinder, sondern die Eltern. Sie unterscheiden sich substanziell von der Blase, in der ich mich zu Hause befinde und es fällt mir wirklich schwer, sie nicht zu bewerten. Wer weiß, wie ich in ein paar Jahren als Mutter sein werde - Hochmut kommt schließlich vor dem Fall - aber ich hoffe doch, dass ich weiterhin meine Kinder anlächle, sie nur dann anpampe, wenn ich wirklich nicht mehr kann und auf ihre Bedürfnisse, Kompetenzen und Defizite eingehe.
Dementsprechend ist der Austausch auch anders als erhofft. Es gibt keine anderen Eltern mit autistischen Kindern (die meisten Patienten haben Krankheiten der Lunge, ADHS oder Adipositas), aber ich habe ein sehr nettes Elternpaar mit einem auch dreijährigen Sohn mit Gendefekt kennengelernt. Sie gebärden ebenfalls, weitaus sicherer und erfolgreicher als wir, und ich glaube, wir haben eine ähnliche Einstellung gegenüber unseren Kindern.

(K)eine Zeit für mich

Indoorspielplatz der Klinik
"Kur-Urlaub" wie andere so schön meinen, ist das hier nicht. Wir sind nicht in einer Mutter-Kind-Kur, sondern in Kinder-Reha, dementsprechend liegt der Fokus auf Therapie und nicht auf Erholung. Das ist auch ok und von uns so gewollt. Schon allein der Tapetenwechsel tut auch mir gut, genauso wie der Abstand zum Alltag. Gleichzeitig habe ich hier deutlich weniger Zeit für mich. Da das Programm für die Mädels so viel ist, versuche ich sie so wenig wie möglich in die Betreuung zu geben. Dies führt natürlich dazu, dass wir fast die ganze Zeit zusammen sind. Anstrengend! Je sicherer sich die Kinder jedoch fühlen, desto schöner wird auch unsere Zeit zusammen. Marie und ich genießen unsere Zeit zu zweit im Wald, während Paula im Kinderwagen schläft. Wir jagen uns im Abenteuerland (dem komplett neuen, aber völlig leerem Indoorspielplatz hier), was in schallendem Gelächter endet und genießen, wenn wir bei "Hallo wach" jeden Morgen gemeinsam auf dem Gummiball singen und hüpfen. So viel Zeit alleine mit Marie habe ich zu Hause nicht. Auch Paula gefällt es in ihrem "Urlaubs Hause" richtig gut und sie hat nochmal einen krassen Entwicklungsschub hingelegt. Von morgens bis abends will sie Rollenspiele (am liebsten Arzt und Schaffner) spielen und ich bin hin und weg. Noch einmal mehr verstehe ich, wie kompliziert es für Autisten sein muss unsere Welt zu verstehen, wenn sie sich soziale Regeln und Konzepte nicht durch Spiel, sondern kognitiv, erarbeiten müssen.

Teilhabe für Autisten


Wangen ist eine allgemeine Kinder-Rehaklinik, die nicht auf Autismus spezialisiert ist. Autismus stellt vielmehr - wie bei den meisten anderen Rehakliniken der Fall - kein Ausschlusskriterium dar. Trotzdem habe ich noch nie einen Ort erlebt, an dem so sehr auf unsere Bedürfnisse eingegangen wurde wie hier. Maries Form der Kommunikation wird nicht nur akzeptiert, sondern auch gefördert. Selbst in der Ergo hängen GuK-Gebärden Poster, damit auch die Therapeuten, die nicht gebärden, mal kurz spicken können. Als sich Marie am Knie verletzt, versteht die Kinderkrankenschwester sofort, dass ihre Anwesenheit Stress bedeutet und bespricht sich mit der Ärztin vor der Tür. Jede Woche habe ich ein kurzes Feedback Gespräch mit der Psychologin, in dem wir besprechen, was noch besser werden kann. Ich frage vorsichtig nach, ob wir in einem ruhigeren Raum essen können und die Psychologin hat sofort Verständnis. Seitdem essen wir zu dritt in einem separaten Speisesaal, was eine riesige Entspannung für uns bedeutet. Als es Marie in der Logo zu viel wird, werde ich sofort angerufen. Selbst die Sporttherapeuten wissen, welche Anziehungskraft Kugelschreiber auf meine Tochter haben, und packen sie wie selbstverständlich weg. Natürlich gibt es auch in dieser Klinik den obligatorischen Hausdrachen, aber insgesamt werden meine Kinder so viel angelächelt, begrüßt und angenommen, wie selten zuvor.

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