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Unsicherheit

Image by Steve Buissinne from Pixabay 
Heute schreibe ich über Unsicherheit. Unsicherheit ist die kleine Schwester der Angst, sie ist oft weniger konkret, eher unterschwellig, dafür aber langanhaltender. Während die Angst uns eine klare Botschaft sendet ("Renn weg"), weiß die Unsicherheit nicht recht, was die Lösung des Problems sein könnte. 

Die meisten Mütter meines Umfelds erleben Unsicherheit. Meine Vermutung ist, dass wir bei der Vielzahl an Botschaften, die wir erfahren, gar nicht mehr erkennen, was (für uns) richtig ist. Hebammen, Ärzte, Social Media Kanäle, Eltern, Freunde und das Internet wissen es häufig besser als wir. Selbst das "Bauchgefühl" darf laut einiger Autorinnen nicht ernst genommen werden, denn dieses sei schließlich auch geprägt aus der eigenen Kindheit. Über diese Art der resultierenden Unsicherheit will ich gar nicht schreiben, denn sie würde den Rahmen hier vollkommen sprengen. Die Unsicherheit, die ich meine, ist die, wenn das Kind nicht (mehr) der Norm entspricht.

Unsicherheit über das kindliche Verhalten

Konkret weiß ich manchmal nicht, ob Maries Verhalten "normal", "verzögert" oder "autistisch" ist. Vielleicht ist es auch etwas vollkommen anderes. Eigentlich könnte es mir egal sein. Wieso muss ich denn das Verhalten meiner Tochter einordnen? Mache ich damit nicht denselben Fehler wie all die Experten, die das Verhalten stets mit einer Norm oder Maßgabe vergleichen müssen?

Ich denke, dieser Wunsch nach Klarheit resultiert aus dem Bedürfnis heraus, sich richtig und angemessen zu verhalten. Wir glauben, dass mit der Einordnung des Verhaltens auch eine Handlungsempfehlung einher ginge. Wenn wir wüssten, dass das Kind gerade nicht anders kann, wären wir entspannter, wenn wir wüssten, dass diese Phase vorbei ginge, vielleicht sogar noch eine Schippe (rw) mehr.

Im Jahr vor der Diagnose erlebte ich eine tägliche, mich wahnsinnig machende Unsicherheit. Immer wieder studierte ich mein Kind und grübelte, ob das denn noch normal sei. Im Kopf ging ich ständig innerliche Checklisten durch ("Blickkontakt: Check; Imitation: Nein; ...), ich war unter permanenter Anspannung. Bisher war die Diagnose daher vor allem eines für mich: Entlastend. Ich versuche mir die Frage, ob das Verhalten noch normal ist, einfach nicht mehr zu beantworten. Ich versuche mir zu sagen: Mein Kind ist wie es ist. Fertig. Aus diesem Grund machen wir auch freiwillig keine Entwicklungstests mehr. Klar, wann immer es für eine Therapie notwendig sein sollte, darf mein Kind getestet werden, aber ich brauche nicht zu wissen, ob Marie nun 1 Jahr, 1,5 Jahre oder 2 Jahre hinterher ist.

Diese Haltung führt kurioserweise auch dazu, dass ich nicht erkenne, wenn Marie etwas altersgerecht kann. Marie schneidet beispielsweise mit keinen 3,5 Jahren gerade Linien mit der Schere. Eine Freundin mit Tochter im gleichen Alter staunte hier nicht schlecht. Und ich dachte nur: Huch.

Unsicherheit im elterlichen Verhalten

Während sich die Unsicherheit in Bezug auf die Bewertung meiner Tochter mit der Zeit reduzierte, erlebe ich weiterhin oft Unsicherheit, wenn es um mein eigenes Verhalten geht. Wie erkläre ich Marie die Welt, was kann ich von ihr erwarten und was nicht. Wo muss ich sie schützen, wo kann sie sich ausprobieren, in welche Konflikte greife ich ein, in welche nicht. Wenn ich zum 1354 Mal sage, dass das Wasser in der Badewanne bleiben soll, versteht sie das? Was tue ich, wenn ich nicht weiß, ob Maries Fehlverhalten Resultat von reduzierten Sprachverständnis, sozialen Kompetenzen oder Selbstregulationsfähigkeiten ist? 

@_smurferlla und ich sprachen letztens darüber, wie schwierig und wichtig es ist, den Kindern das richtig Maß zuzutrauen. Bei uns war es beispielsweise lange so, dass Marie einfach weg lief. Ohne Gefahrenbewusstsein, dafür aber mit einer Begeisterung für alles verbotene, lief sie auf die Straße. Sie durfte daher nur aus dem Kinderwagen, wenn sie neben mir an der Hand lief. Das klappte gut. Ich weiß nicht, wann sie gelernt hat, dass sie, wenn wir unterwegs sind, neben mir bleiben muss. Aber eines Tages wollte sie nicht mehr an die Hand und ich stand genau vor dem Problem: Schafft sie das denn? Sollte ich eine gut geübte Regel aufgeben, scheitern und am Ende mit vielen Tränen wieder einfordern? (Eine Regelausnahme führt bei uns nämlich meist zu rebellischem Verhalten beim nächsten Mal ;-)) Aber: Tatsächlich läuft Marie (aktuell) nicht weg. Wird sie etwas schneller und sage ich "Warte", hält sie an. An jeder Straße streckt sie mir freiwillig die Hand entgegen. Wir haben genau den richtige Moment erwischt um Marie mehr zuzutrauen.

Neben diesem Positivbeispiel gibt es aber eben auch Situationen, in denen ich schlicht überfragt bin. Ich handle nach meinem Bauchgefühl, nicht immer konsequent und vermute, dass ich es mir und Marie gerade durch meine unsichere und unklare Haltung extra schwer mache. Ich versuche daher mir für konkrete Situationen konkrete Verhaltensweisen festzulegen und diese durchzuziehen. Auch wenn dies möglicherweise nicht immer als Highlight einer perfekten Erziehung in die Weltgeschichte einhergehen wird, so ist sie wenigstens für Marie durch die Wiederholung verständlich. Konkretes Beispiel: Wenn Marie etwas vom Tisch wirft, muss sie es aufräumen. Ich schimpfe nicht (oder besser: selten), aber bestehe darauf, auch wenn das manchmal zu Tränen führt. Seitdem ich hier eine klare Haltung habe, bleibe ich (meistens) ruhig, und Marie akzeptiert es besser die Dinge auch aufzuräumen. 

Unsicherheit von Anderen

Mit einem Kind zu interagieren, das man nicht kennt, von dem man aber weiß, dass es "anders" ist, kann verunsichern. Außenstehende wollen alles richtig machen. Vielleicht noch mehr, wenn die Mama, also ich, daneben steht. Oft habe ich den Eindruck, dass ich auf meine Herkunftsfamilie einschüchternd wirke. Die Super-Mama, die alles besser weiß. Mit dem "besser wissen" haben sie irgendwie ja auch recht: Na klar, bin ich als Autismusmama besser informiert und kenne meine Tochter am besten. Bislang gelingt es mir scheinbar nicht gut, meinem Umfeld zu kommunizieren, dass ich keineswegs erwarte, dass sie genauso kompetent wie ich reagieren. Was ich mir aber wünsche, ist eine Offenheit und ein proaktives Zugehen des Anderen.

Manchen Personen fällt es total leicht mit Marie zu spielen. Interessanterweise sind das oft die Mütter, die gar nicht den Anspruch an sich erheben alles richtig machen zu wollen. Diese "unperfekten" Mütter schnappen sich ihre Kekstüte, fragen mich, wie die Gebärde für "mehr" gehe und stapfen auf Marie zu, bieten ihr einen Keks an und spielen anschließend mühelos gemeinsam im Sandkasten. Ihre entspannte, "erwartungsfreie Zuversicht" bringt genau die Ruhe, die (nicht nur) Marie zum spielen einlädt.

Lange Zeit dachte ich, dass ich mein Umfeld über Autismus aufklären müsse und verteilte Literatur darüber. Manchmal denke ich, dass dies die Sache nicht unbedingt besser gemacht hat. Zu viel Information kann doch auch Druck ausüben. Da niemand etwas falsch machen möchte, hält sich derjenige lieber zurück - was dazu führt, dass Marie sich lieber mit mir beschäftigt. Würde ich an ihrer Stelle auch so tun, verschlimmert nur leider die Sache.

Vielleicht ist der Schlüssel zum Erfolg gemeinsame Zeit. Je häufiger man sich sieht, je häufiger Marie den Anderen erleben kann und anders herum, desto leichter wird es. Sobald die Beziehung aufgebaut ist, kann ich mich auch zurückziehen und die beiden erleben etwas gemeinsam. Dies alles benötigt Zeit und Regelmäßigkeit. Genauso müssen Tim und ich uns manchmal bremsen und loslassen. Wenn ich heute sehe, wie sehr sich Marie auf den Besuch ihres Patenonkels freut oder wie selbstverständlich sie mit ihrem Opa Laufrad fahren geht, dann denke ich: Wie schön, dass es euch gibt.


Noch mehr Gefühle:
Über Traurigkeit
Über Wut 
Über Freude

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