Direkt zum Hauptbereich

Gebärden für Einsteiger 1: die Basics


Gebärde für 'zu Hause'
daslebeninrosa hat einen, wie ich finde, fabelhaften hashtag ins Leben gerufen, der da heißt: #stelldirvoresgehtundwirwissenwie . Es soll dabei um den Austausch von Informationen und Erfahrungen gehen, eben all jenem Wissen, das man sich über die Zeit erarbeitet hat und von dem man denkt: "Ach, hätte ich das doch nur mal vorher gewusst!".

Da Maries Sprachentwicklung deutlich verzögert ist, bekam ich früh den Hinweis, wir sollten doch Gebärden und Bildkarten verwenden. Egal ob Logopädie, Frühförderung oder Autismusforen - alle reden darüber, aber keiner konnte mir in einfachen Sätzen erklären, wie man das denn nun genau macht. Auch die Literatur, die ich las, fand ich oft umständlich, sperrig und eben nicht auf den Punkt gebracht.

Hier kommt daher mein Versuch, eine Art "Gebärden für Dummies" zu erstellen (Bildkarten kommen in einem separaten Artikel). Ich möchte unbedingt an dieser Stelle festhalten, dass ich keine Fachfrau auf diesem Gebiet bin und hier nur unseren Weg beschreiben kann und möchte. Bevor ich euch im nächsten Post unsere „step by step“ Anleitung vorstelle, erfahrt ihr hier als erstes ein paar Hintergrundinformationen zum Thema Gebärdengebrauch bei Sprachentwicklungsverzögerungen/ Autismus.

Warum überhaupt Gebärden?

Das allerwichtigste an Gebärden ist natürlich, dass sie helfen, in eine verständliche Kommunikation zu kommen. Durch Gebärden können Wünsche, Bedürfnisse und Gefühle kommuniziert werden. Ich bin unglaublich dankbar, dass Marie, auch wenn sie bislang nur eine handvoll Gebärden aktiv verwendet, diese nutzt um sich auszudrücken. Gebärden benötigen (abgesehen von den Händen natürlich) keine weiteren Hilfsmittel. Während wir unsere Bildkarten gerne zu Hause vergessen und ich es oft super mühsam finde, die passende Karte herauszusuchen, kann mit Gebärden direkt losgelegt werden. Auch profitiert Maries Sprachverständnis deutlich, wenn das Gegenüber das Gesagte durch Gesten unterstreich. Selbst manche sprechende Autist*innen nutzen Gebärden, wenn sie in einem Overload oder Meltdown nicht mehr sprechen können - genau so wie Tim und ich, wenn wir einander auf dem Spielplatz nicht hören ;-). Einen persönlichen Vorteil von Gebärden erlebe ich im Alltag, wenn andere Eltern bemerken, dass wir gebärden. Ich bilde mir ein, dass sie anschließend verständnisvoller auf Marie blicken, denn sie verstehen, dass Marie nicht "unerzogen" ist, sondern tatsächliche Schwierigkeiten in der sozialen Kommunikation hat.

Nachteil: Man muss Gebärden erst lernen und dafür ist Imitationsverhalten gefragt - eine Fähigkeit, die vielen Autist*innen eher schwer fällt. Außerdem muss das Gegenüber sich auf diese Art der Kommunikation einlassen (etwas, wozu leider die Erzieherinnen Maries alter Krippe nicht bereit waren). Da Gebärden nur mit viel Wiederholung verinnerlicht werden können, sollten natürlich so viele Menschen wie möglich mitmachen und es bedarf einer Menge Geduld.

Schaden Gebärden der Sprachentwicklung?

Ich gebe zu: Als wir mit Gebärden begannen, hatte ich durchaus die Befürchtung, dass Marie vielleicht bei Bildkarten oder Gebärden bleiben könnte anstatt zu sprechen. Ich glaube, der Denkfehler, den viele hier haben, ist, dass Kinder zu faul seien und man es ihnen nicht zu einfach machen darf (tatsächlich genau so zu mir gesagt von einem HNO Arzt!). Das ist natürlich Quatsch, denn Marie will reden und kommunizieren, sie weiß nur noch nicht wie. Mehr Stress hilft da nicht, ganz im Gegenteil. 

Was mir geholfen hätte zu wissen, ist, dass Kinder, wenn sie dann mit dem sprechen beginnen, das Wort zur Gebärde gleichzeitig einsetzen. Sie sprechen also, obwohl sie es nicht müssten, es kommt ganz von allein. Erst wenn sie sicher sind, dass der Andere das Wort auch versteht, hören sie mit der Gebärde auf. Für uns ist das gerade ein riesiger Vorteil: Marie sagt beispielsweise so etwas wie "tete" für "trinken". Ohne die Gebärde wäre ich aber nie (oder zumindest erst sehr viel später) drauf gekommen. 

Es gibt außerdem Studien, die zeigen, dass Kinder, die Gebärden nutzen, schneller sprechen lernen. Ich habe diese Studien nicht selbst gelesen, gebe jetzt also nur das wieder, was mir von allen Seiten gesagt wurde. Für Paula, die mit Gebärden groß geworden ist, kann ich das nur bestätigen. Paula gebärdete mir mit 14 Monaten schon ganze Bücher vor und nutzt auch heute noch, wenn sie etwas nachdrücklich sagen möchte, die passende Gebärde. Aus lerntheoretischer Sicht machen Gebärden auch sehr viel Sinn, da das Wort multimodal verarbeitet wird- es wird dadurch stärker verarbeitet und besser gelernt. Außerdem sollen Gebärden Autist*innen, die Probleme mit dem Blickkontakt haben, eine Möglichkeit bieten, ihre Aufmerksamkeit auf das Gegenüber zu richten, ohne ihm oder ihr direkt in die Augen blicken zu müssen.

Ab wann können Kinder Gebärden lernen?

In einem Ratgeber für Babyzeichen las ich, dass gewisse Anzeichen erfüllt sein sollten, bevor man mit Gebärden beginnt. Dazu gehörte beispielsweise "Winken" oder wenn das Kind durch "Arme nach oben strecken" dem Gegenüber signalisiert, dass es hoch genommen werden möchte. Ich weiß nicht, ob das auch für Autisten zutrifft. Ich würde spontan sagen, dass, sofern ein Kind Lust hat zu kommunizieren (auf welche Art und Weise auch immer) man Gebärden ausprobieren kann.

Welche Gebärden gibt es und wo bekomme ich sie her?

Fast jedes Land verfügt über seine eigene Gebärdensprache. Es gibt sogar regionale Dialekte! In Deutschland gibt es die DGS (Deutsche Gebärdensprache). Andere bekannte Systeme sind Makaton und GuK-Gebärden. Letztere sind teilweise abgewandte DGS-Gebärden, die einfacher auszuführen sind (GuK-Gebärden wurde ursprünglich für Menschen mit Down-Syndrom entwickelt, werden aber mittlerweile breit bei Sprachentwicklungsverzögerungen angewandt). Die meisten starten genau aus diesem Grund mit GuK. Ich weiß ehrlicherweise nicht, ob ich das empfehlen würde, denn spätestens in der Schule (sofern dort Gebärden genutzt werden) wird die DGS genommen. Zwar unterscheiden sich die Gebärden nicht komplett, aber dennoch müssen die Kinder dann manches umlernen (so wurde mir das zumindest von einer UK-Beraterin berichtet). Marie hat auch ihre GuK-Gebärden nicht "richtig" ausgeführt, sondern ihre eigene Interpretation davon entwickelt. Ich glaube daher, dass auch kleine Kinder die DGS auf ihre Weise erlernen können. Auch das hätte mir geholfen: Niemand kann voraussagen, ob und wann ein Kind sprechen wird. Die Wahl des Gebärdensystems ist daher eine wichtige, die wohl überlegt sein möchte. Bei uns hieß es damals: "Ach, so wichtig ist das nicht, es ist ja nur für den Spracherwerb." Wir erfanden daher munter Gebärden, die uns gerade passend erschienen. Das war sicher auch ok, aber jetzt sitzen wir da und müssen unseren Erziehern jede "Marie-Gebärde" erklären und die Erzieher (die bereits Gebärdensysteme kennen) müssen wieder neu lernen. Ist also viel vermeidbarer Aufwand.

Wenn ihr gleich meine Step-by-step Gebärdenanleitung seht, werdet ihr feststellen, dass man zu Beginn erst einmal gar kein Gebärdensystem benötigt. Erst wenn ihr ein Interesse an Gebärden bei eurem Kind feststellt habt, würde ich euch sehr raten ein festes Gebärdensystem zu nutzen.

Wenn ihr euch für ein Gebärdensystem entschieden habt, müsst ihr natürlich erst einmal selbst die Gebärden lernen. Für GuK gibt es Materialien hier:

https://www.ds-infocenter.de/html/guk.html

Die Karten zeigen Abbildungen mit Gebärden, Wörtern und Bildern. Mir wurden von unserer Logopädin einige Karten kopiert, aber ich verstand nicht recht, wie ich die denn im Alltag einsetzen sollte. Erst später erfuhr ich: Gar nicht. Mit den Karten sollte ich erst einmal die Gebärden lernen und sie danach mit Marie üben. Natürlich kann man die Gebärdenkarten auch im Sinne von Bildkarten nutzen, aber da finde ich Metacom Symbole besser.

Wir stellen jetzt auf die DGS um und sind an einem Punkt, an dem wir das gesamte Gebärdenwörterbuch benötigen. Die Gebärden für Maries Sonderinteressen sind nicht leicht zu googlen und mir wurde das auch zu anstrengend auf Dauer. Von unserer Stelle für Unterstützte Kommunikation wurde das "Kestner Wörterbuch" empfohlen. Der Vorteil: es gibt das Wörterbuch nicht nur mit Videos für den PC, sondern auch als App. Mit dieser kann man wunderbar Gebärden lernen und hat natürlich auch ein schnelles Nachschlagewerk dabei. In einem Wörterbuch sucht man sich das entsprechende Wort und ein Video wird dazu abgespielt, welches man in einer Lernliste bei Bedarf abspeichern kann. In der Demoversion sind nur wenige Gebärden verfügbar, mit der man sich das Ganze mal anschauen kann.
Will man die App dauerhaft nutzen, hat man die Wahl zwischen einer Gesamtversion für 80 € und einzelnen themenbezogenen Gebärdenpaketen. Ich fand die Paketoption relativ ätzend, denn woher weiß ich, in welchem der 11 Pakete denn genau das Wort, das ich brauche, eingeordnet ist? Wir haben uns daher für das Gesamtpaket entschieden. Leider hat unsere Krankenkasse die Kosten für das Kestner Wörterbuch nicht übernommen.

!Wichtiger Hinweis für iOS User!: Wenn ihr einzelne Pakete kauft, könnt ihr sie NICHT über die Familienfreigabe mit anderen teilen. Wenn ihr die App auf mehreren Geräten nutzen wollt, macht daher vielleicht das Gesamtpaket mehr Sinn.

Hier geht es weiter zu: Gebärden für Einsteiger 2: Eine 'step by step' Anleitung

Kommentare

Beliebte Einträge

Über das Selbstwertgefühl bei (neurodivergenten) Kindern

In meiner Arbeit als Psychotherapeutin kommt bei fast allen Patient*innen früher oder später das Thema Selbstwertgefühl zur Sprache. Zu Hause als Mutter frage ich mich, wie ich meine autistische Tochter darin unterstützen kann, ein stabiles Selbstwertgefühl zu entwickeln- in einer Welt und einem Alltag, der ihr immer wieder zeigt, dass sie "anders" ist.  Eine kleine, aber wichtige Alltagsbeobachtung Letzte Woche bei der Ergotherapie beobachtete ich folgende Szene: Eine Mutter unterhielt sich in Anwesenheit ihrer ca. siebenjährigen Tochter über die Therapiestunde mit der Ergotherapeutin. "Sie hat sich heute richtig gut konzentriert", meinte die Therapeutin und die Mutter antwortete: "Oh wie schön, dann hatte sie heute also einen guten Tag."  Warum schreibe ich über diese Beobachtung und was hat sie mit Selbstwertgefühl zu tun? In der Psychologie sprechen wir von Attributionen, also von Ursachenzuschreibungen. Es ist ein spannendes Feld, denn e

Die Sache mit der Nonverbalität

Image by  Gerd Altmann  from  Pixabay   Kinder beim sprechen lernen zu beobachten macht mir riesige Freude. Paula reißt die witzigsten Sprüche ("Mama sagt nein. Ich sage doch!") und immer größer werden die Einblicke, was in ihrem kleinen Kopf alles vor sich geht. Marie ist mit ihren bald 4 Jahren noch ein ganzes Stück davon entfernt, mir auf verbalem Wege sagen zu können, was sie beschäftigt. Jeder Zwei-Wort-Satz ist hart erkämpft und bleibt für Außenstehende doch oft unverständlich. Es bedarf viel Einfühlungsvermögen, viel genaues Hinhören und manchmal auch ein wenig Fantasie, um Maries Laute und Worte in einen Zusammenhang zu bringen. Anderen Eltern ist diese Problematik bewusst und können mitfühlen. Ich glaube jedoch, dass die tatsächlichen Schwierigkeiten, die durch eine Sprachentwicklungsverzögerung entstehen, oft anders, manchmal auch größer, sind als sich Nicht-Betroffene das vorstellen können. "Nur weil Marie nicht spricht, heißt es nicht, dass sie dich

Kliniktagebuch: Wochen 2 und 3: Ein Zwischenfazit

Nun ist die Reha schon fast wieder vorbei. Mittlerweile sind wir gut im Klinikalltag ankommen, auch wenn Marie häufig wenig Lust auf die Angebote hat und lieber kuscheln möchte. Durch liebevolles Zureden, Bildkarten und Erklärungen lässt sie sich aber meistens doch auf die Aktivitäten ein und hat dann viel Spaß daran. Auch sonst habe ich einiges beobachten und erfahren dürfen, was ich sicher ohne Reha nicht erkannt hätte - über Erziehungsstile, Kinderzeit und echte Teilhabe. Andere Eltern- andere Sitten Wenn ich durch Marie eines gelernt habe, dann, dass man nicht über einen Anderen urteilen soll. Jede Familie hat andere Stärken und Schwächen, hat andere Probleme und Ressourcen. Hier in der Rehaklinik sehe ich, wie weit das Spektrum ist ... damit meine ich nicht die Kinder, sondern die Eltern. Sie unterscheiden sich substanziell von der Blase, in der ich mich zu Hause befinde und es fällt mir wirklich schwer, sie nicht zu bewerten. Wer weiß, wie ich in ein paar Jahren als Mutter