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Wie geht es dir denn so als Mama mit autistischem Kleinkind?

Photo by Sarah Trummer from Pexels
Wenn mich Menschen fragen, wie es uns in unserer besonderen Lebenssituation geht, fällt mir die Antwort meist schwer. Tja, wie geht es uns denn? Kurz, ehrlich und nachvollziehbar würde ich gerne meinem Gegenüber erklären, wie unser Leben denn gerade ist. Meistens sage ich sowas wie "Hach ja, weißt schon, klar ist es anstrengend und oft verrückt, aber die Mädels sind halt einfach super cool und irgendwie läuft es schon."
Ich glaube mit dieser Antwort den Erwartungen gerecht zu werden- muss ja schließlich anstrengend sein, so ein Leben mit autistischem Kind. Und natürlich verzagen Tim und Sarah da nicht, ist doch nicht deren erste Herausforderung. Die Aussage ist auch nicht falsch, aber irgendwie treibt sie mich weiter um.

Wie geht es mir denn? Und welchen Anteil hat Maries Autismus?

Um diese Frage ehrlich zu beantworten, muss ich etwas ausholen und über mich schreiben. Und über das Leben mit zwei Kleinkindern. Und natürlich auch über das Leben mit Autismus.

Generation Y, hier bin ich!

In mancher Hinsicht bin ich voll und ganz Teil der Generation Y. Ich bin privilegiert aufgewachsen, Haus mit Garten, gute Schulen, super eingebunden. Mir fällt wenig ein, was ich gerne anders in meiner Kindheit gehabt hätte. Nach der Schul- bzw. Unizeit standen mir alle Türen offen (rw). Wie viele Andere meiner Generation will ich alles und am liebsten sofort. Ich kann mich in Dinge reinhängen, aber ich erwarte auch eine Gegenleistung.

Ich weiß nicht, wie Elternwerden für die Generation meiner Eltern und Großeltern war. Ich habe manchmal die Vermutung, deren Erwartung an das Leben waren weniger hoch oder zumindest nicht so sehr spaßbezogen. Ich weiß auch nicht, ob meine Mutter sich so viele Gedanken über Erziehung gemacht hat. Ich mag gar nicht urteilen, ob diese Haltung gut oder schlecht ist. Ich glaube aber, sie hat einen großen Vorteil: Wenn man weniger Optionen hat und außerdem nicht erwartet, dass alles direkt Freude bereiten muss, dann nimmt man seine Rolle vielleicht leichter an.

Ich bin gerne Mama. Aber eben auch gerne Therapeutin. Ich bin auch gerne Partnerin genauso wie ich gerne Freundin bin. Wenn ich mich zur Zeit häufig getrieben fühle, dann liegt es auch daran, dass ich am liebsten auf zehn Hochzeiten gleichzeitig tanzen (rw) möchte. Mein Leben ist wirklich schön und dennoch frage ich mich, ob es das schon gewesen ist. Autismus spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Ich bin diejenige, die im Leben einer Anfang 30-jährigen ankommen muss, die den Spagat zwischen Familie und Job, Freunden und Ruhe schaffen will.

Der #twoundertwo Club

Marie und Paula sind 15 Monate auseinander. Wir wollten es so, daher möchte ich mich nicht beschweren. Zwei Kleinkinder zu haben, gerade unter der Woche, wo ich sozusagen in der Unterzahl bin, ist anstrengend. So viele Bedürfnisse, die oft nur ich als Mama befriedigen kann, bei so vielen Meilensteinen, die noch Unterstützung brauchen. Wir haben keine Großeltern vor Ort. Aber wir haben eine große Wohnung mit Garten, uns wird also auch zu Hause selten langweilig, wenn wir nicht rausgehen können.

Zwei Kleinkinder zu haben macht mich manchmal einsam. Größere Wochenendausflüge zu Freunden, die weiter weg wohnen, sind schwierig, denn Mittagsschlaf, Mahlzeiten und Ruhephasen wollen berücksichtigt werden. Wenn andere Mütter sich mit uns auf dem Spielplatz verabreden wollen, freut mich das, aber ehrlicherweise kommen wir kaum dazu einen ganzen Satz auszutauschen, weil die Mädels mich eben voll im Griff haben. Klar wäre das vielleicht anders, wenn Marie altersentsprechend entwickelt wäre. Aber wenn ich andere Mütter mit zwei Kleinkindern sehe, sind diese trotzdem ähnlich beschäftigt wie ich.

Wenn ich um 22.00 erschöpft ins Bett falle, um zwei Stunden später aufzustehen und Paula zu uns ins Bett zu holen, hat das ebenfalls nichts mit Marie zu tun. Der einzige Punkt, an dem Maries Autismus eine Rolle spielt, ist, dass ich durch Paula eben weniger Zeit für Maries Förderung habe. Ich würde gerne mehr mit ihr zu zweit spielen, mehr mit ihr üben und voll und ganz bei ihr sein. Das geht aber nur bedingt, wenn die kleine Schwester dazwischenfunkt.

Andererseits ist es für uns und Marie genau das richtige, eine so aufgeweckte Schwester wie Paula zu haben. Man kann sich kaum vorstellen, mit welch unglaublicher Empathie, Fürsorge und Begeisterung Paula mit ihrer Schwester umgeht. Wie sehr die beiden voneinander profitieren. Die Momente sind kurz, aber sie werden häufiger: zwei Mädchen, die miteinander spielen und lachen, Streiche spielen und sich nachahmen. Die ihre Milchflaschen tauschen und sich mit Keksen füttern. Ja, zwei Kinder mit solch geringem Altersabstand zu haben, ist anstrengend, insbesondere wenn eine davon autistisch ist, und doch gäbe es keine bessere Kombination für uns.

Maries Autismus

Einer meiner ersten Artikel bezog sich darauf, was ich durch Marie gelernt habe. Mittlerweile könnte ich es noch um den Punkt ergänzen, dass ich mich bewusster verhalte. Die Art wie ich kommuniziere, die Zeit, die ich mir für Kleinigkeiten nehme, das alles hat mich über mich hinaus wachsen lassen. Aber es ist auch anstrengend. Es zehrt oft an meinen Kräften. Dann bin ich so müde. Eine Müdigkeit, die nicht durch zu wenig Schlaf verursacht wird, sondern die aus einem erschöpfenden Alltag resultiert. Ich spüre, wie sie hinter meiner Nase beginnt, den Nacken und Rücken runterzieht und meine Beine schwer macht. Und ja, diese Müdigkeit kommt auch daher, dass ich mein Kind immer im Auge haben muss, dass ich mehr leisten muss als Mütter neurotypischer Kinder.

Ich höre den Unterschied zwischen "Bl" für "Blume" und "Bl" für Blatt. Ich übersetze Laute und Gebärden, die andere nicht verstehen. Egal wie wir kommunizieren, allein das Wissen, dass jede Interaktion Marie fördert und fordert, nimmt mir manchmal ihre Zwanglosigkeit. Ich habe im Blick, ob Marie genug gegessen und getrunken hat, denn nicht immer kann sie ihr Bedürfnis ausdrücken. Ich passe den richtigen Moment ab, kurz bevor Marie ihren Trinkbecher ausschüttet.

Ich vermeide volle Spielplätze und Menschenmengen, nicht nur um Marie vor einer Reizüberflutung zu schützen, sondern auch um meine Nerven zu schonen. Unsere Wohnung verlasse ich nur mit Kinderwagen oder Kraxel. Ich erkenne Gefahrenquellen schneller als drei TÜV-Prüfer zusammen. Ich sitze vor Kabeln und tauche in Welten ein, die ich nicht geplant hatte je kennen zu lernen. Ich organisiere unsere Therapien, fülle Formular um Formular aus und bilde mich wegen nicht endenden Wartelisten schlussendlich doch in Eigenregie fort.

Ich glaube, wenn man nicht auch ein behindertes oder autistisches Kind hat, kann man kaum nachvollziehen, wie viel die kleinen Schritte des Alltags bedeuten. Wie anstrengend es sein kann, einkaufen zu gehen und welch Glück in scheinbaren Belanglosigkeiten steckt. Selbst wenn Paula, die Quasselstrippe des Hauses Wagner, den 189. Wunsch des Tages äußert ("Mama zudecken! Mama Kissen holen! Mama daaaaaa!"), dann grinse ich innerlich, denn ich weiß, dass kein Wort davon selbstverständlich ist. Ich bin dankbarer und demütiger geworden. Ich habe gelernt genau hinzuschauen. Nicht nur um mein Kind zu verstehen, sondern auch weil unendliches Glück in den kleinen Details des Alltags steckt.

Also, wie geht es mir? Die ansprüchliche Generation-Y-Muddi, die zwei Kinder, Job und Garten hat und deren eine Tochter autistisch ist?

"Hach ja, weißt schon, klar ist es anstrengend und oft verrückt, aber die Mädels sind halt einfach super cool und irgendwie läuft es schon."

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