Geteiltes Leid ist halbes Leid⠀
Ich weiß nicht, ob man das nachvollziehen kann, aber irgendwie tröstet es mich, dass wir alle im gleichen Boot sitzen (rw). Und mit alle meine ich eigentlich all die Familien, die keine behinderten Kinder pflegen. Deren größte Herausforderung - ich bin jetzt etwas fies - bislang war, für den Pekip Kurs nur auf der Warteliste zu stehen. Plötzlich müssen nicht nur wir, sondern alle zu Hause bleiben. Plötzlich ist unser zurückgezogener Lebensstil normal, denn auch alle Anderen müssen auf Playdates, Spielplatz-Plausche und Familiengrillen verzichten. Und ja, das ist anstrengend! Und ja, krass, Routinen sind scheisse wichtig. Und jahaaaa!, so fühlt es sich an, wenn man sein Kind die meiste Zeit bei sich betreuen muss.⠀⠀
Gemeinsam ist man weniger allein. Mit einem Mal umschließt das nicht nur mich und andere Mütter von Kinder mit besonderen Bedürfnissen, sondern auch meine Normalo-Mütter und Freunde. Aus diesem Moment der gemeinsamen Isolation finden wir neue Wege, um im Kontakt zu bleiben. Tatsächlich fühle ich mich in dieser Zeit des Social distancing so wenig alleine wie selten zuvor. Ich treffe meine Freunde in Videochats, schreibe mit Bekannten, habe mehr Kontakt zu meiner Familie. All das wäre sicher schon früher möglich gewesen, jetzt scheint mir jedoch der Moment, an dem auch andere Bedarf darin sehen. Ich weiß nicht, wie dieses Gemeinschftserleben in einem halben Jahr aussehen wird, wenn diese Menschen wieder ihren Alltag mit „echten“ Treffen, Spielplatzchats und Karrieresprüngen zurückhaben. Vielleicht bleibt der Kontakt und das Verständnis für unser Leben - ein schöner Gedanke ist dies in jedem Fall.
Der Gedanke zählt... nicht.⠀
Die Pädagogin unserer Frühförderungsstelle ruft an. Wie fast alle Therapien ist auch die Frühförderung erst einmal ausgesetzt. Videomöglichkeiten kommen für Marie nicht in Frage, also müssen wir abwarten. Sie lobt mich und uns, wie wir das meistern. Ich höre, wie Frau G. sich um ihre Familien sorgt, wie sie für uns da sein will, aber nicht kann. Es tut gut, gesehen zu werden. Das Gefühl vermittelt zu bekommen, dass jemand weiß, was Quarantäne für uns bedeutet. Denn: Eine gute Pflege muss eigentlich von mehrerern Personen geschultert werden, um gelingen zu können.⠀⠀
Und gleichzeitig: alleine die Tatsache, dass Frau G. versucht ein längeres Gespräch morgens um 11.15 mit mir zu führen, zeigt, dass am Ende doch keiner weiß, wie es wirklich ist. Dass ich mich eben nicht einfach mal 15 min unterhalten kann, weil sonst der Tiptoi Stift im Klo landet, die Kinder sich verprügeln und überhaupt: dass der Lärmpegel von zwei schreienden Kindern (denn das passiert quasi zeitgleich mit dem Klingeln des Telefons) jegliches angenehmes Gespräch verhindert. Emotionaler Beistand ist schön und tut gut, aber er löst unsere Probleme nicht. Was ich brauche, ist jemand, der eines der Kinder übernimmt, der Entzerrung und 1:1 Zeit gewährleistet. Bei dem die Kinder ohne Rücksicht sie selbst sein dürfen und abgeholt werden, da wo sie stehen. ⠀
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Social distancing ist für uns also weniger ein Problem der sozialen Isolation oder unserer Lebensgestaltung. Sondern: Social distancing überträgt die pflegerische Betreuung meines behinderten Kindes ohne Pause, rund um die Uhr, auf uns. Hier hilft weder „die Sendung mit der Maus“ noch YouTube, hier hilft kein Bastel- oder Gartenprojekt. Meine Tochter zu umsorgen braucht unfassbar viele Ressourcen. Dass die Förderung und Therapie auf unbestimmte Zeit ausgesetzt ist, macht den Druck, den ich erlebe, nicht unbedingt geringer. Mütter alleine - oder zumindest ich - können das auf Dauer nicht stemmen.
Care-Arbeit und Gleichberechtigung ⠀
Und Bumm! Plötzlich liegen die großen gesellschaftlichen Debatten mitten auf unserem Esstisch. Corona katapultiert genau die Fragen, die Tim und ich normalerweise lieber aus der Ferne diskutieren, mitten in unser Leben. Welcher Job von uns beiden ist systemrelevant? Welcher Job ist wichtiger für unsere Finanzen? Wie viel tägliche Care-Arbeit am Stück ist zumutbar? Und wer von uns ist besser geeignet, Marie zu fördern?⠀⠀
Emanzipation, Gleichberechtigung, Care-Arbeit: Mit einem Mal müssen wir die Debatten neu führen. Und Tim, der Mann, der die ersten zwei Lebensjahre von Marie fast 50:50 übernommen hatte, der meinen Nachnamen angenommen hat und vor einem Jahr noch bei einer Podiumsdiskussion über Familienmodelle diskutierte, genau der Tim, so empfinde ich, versucht erst Mal möglichst viele Aufgaben an mich zu übertragen. Weil sein Job so wichtig ist. Weil er da nicht einfach Zeit freihalten kann. ⠀
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Und ich, die eigentlich weiß, dass Tim nun wirklich nicht Zielobjekt feministischer Angriffe sein müsste; die, die so viel Wert auf konstruktive Diskussionen legt, fange an emotionsgeladene (im Nachhinein eigentlich ziemlich witzige) Argumente auszupacken. Schnell haben wir den Eindruck: Eigentlich wollen wir dasselbe. Trotzdem streiten wir uns, man hat fast den Eindruck, aus Prinzip.⠀
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Schlussendlich ist Tim immer noch der emanzipierte Mann, ich den ich mich verliebte. Mit seiner Arbeitgeberin bespricht er, wann er zu Hause sein muss, fährt Marie einmal wöchentlich zur Ergo und wächst wieder einmal über sich selbst hinaus. "Entschuldigen Sie kurz, ich muss meiner Tochter eben die Schaufel reichen", unterbricht er das Telefonat mit der Mandantin. Packt Paula in den Fahrradanhänger und fährt so lange durch den Wald, bis sie eingeschlafen ist. Singt mit den Kindern im Morgenkreis, während ich die Ruhe der leeren Praxisräume genieße.⠀
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Die Kinder (ich sowieso) danken es ihm. Wir haben den Eindruck, wir zeigen einer Arbeitswelt, in der Kinderfreundlichkeit bislang ein Fremdwort war, dass es klappen kann. Es fordert unglaublich viel von uns. Aber wir hoffen, dass wir etwas dieser „Zwangsflexibilität“ in die Zukunft retten könne
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