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"Paula darf aber auch nicht zu kurz kommen" - über Geschwister besonderer Kinder


Unsere Frühförderungsstelle bietet einen Workshop für Eltern an, bei dem es um Geschwisterkinder behinderter Kinder geht. Zweimal wurde ich darauf hingewiesen, was sich für mich nach einer impliziten Aufforderung anfühlte.
Vielleicht könnte man auch beim Lesen dieses Blog meinen, dass Paula nur der Sidekick ihrer autistischen Schwester wäre. Tatsächlich ist sie im echten Leben eine genauso große Hauptdarstellerin wie Marie. Paula ist so herzlich, so witzig und manchmal so herrlich trotzig, ich könnte Bände über sie schreiben. Dass Geschwister behinderter Kinder manchmal als "Schattenkinder" bezeichnet werden, fühlt sich für mich daher merkwürdig an. Aber vielleicht bin ich da auch gar nicht die richtige Beurteilerin (oder vielleicht genau die richtig?), denn wenn man so will, müsste ich mich selbst zu dieser Kategorie zählen. Als Schwester eines Bruders mit Down-Syndrom sah ich mich, um im diesen Bild zu bleiben, jedoch immer als strahlendes Sonnenkind.

Für mich war es völlig normal, dass mein Bruder anders ist. Gerne erzählt meine Mama, wie ich im Kindergarten den anderen Kindern erklärte, dass mein Bruder manches eben langsamer mache, aber er genauso toll wie alle anderen Kinder sei. Ich erinnere mich, wie ich meinen Bruder darauf hinwies, den Mund zuzumachen (er war hypoton), wie ich fasziniert durch das selbst gebastelte Buch blätterte, mit welchem mein Bruder lesen lernte und mit ihm im elterlichen Bett tobte. Ich erinnere mich an keine Situation, bei welcher ich als Schwester hätte zurück stecken müssen, in denen ich nicht gesehen worden wäre. Ich weiß, wie super stolz ich auf all das war, was mein Bruder konnte und habe durch ihn nie Ablehnung oder ähnliches erfahren. Im Gegenteil: In der Mittelstufe "beichtete" mir mal eine Mitschülerin, dass sie sich eigentlich auch einen behinderten Bruder wünsche, weil meiner so lieb sei. Ich fand die Aussage kurios, sie ist mir in Erinnerung geblieben. Natürlich weiß ich, dass nicht alle Familien dieses Glück haben und das dieses Glück maßgeblich an meiner Mutter lag.

Lange dachte ich also, dass mich mein Bruder nicht geprägt habe. Als ich mich während des Studiums für ein Stipendium bewarb, bei dem auch meine Biografie zählte, meinte mein Umfeld, ich müsse doch über meinen Bruder schreiben. "Hä?!", dachte ich, denn es war eben so normal. Heute, um einiges an Erfahrung weiser, weiß ich, dass eben genau das die Prägung war: Unterschiedliche Möglichkeiten und Bedürfnisse zu haben ist normal. Verantwortung zu übernehmen ist normal. Und: Auf was man stolz ist, ist Bewertungssache.

Paula, die große kleine Schwester

Nun ist Autismus etwas anderes als Trisomie 21. Mein Bruder hat keine Schwierigkeiten mit sozialen Regeln. Die Konflikte zwischen ihm und mir blieben gering. Ich war immer die große Schwester, die Rollen waren klar verteilt.

Wenn ich Paula so betrachte, fällt mir aber auf, dass Maries Andersartigkeit für sie genau so normal ist, wie für mich damals. Sie hinterfragt es (noch) nicht. Es ist normal, dass Marie ein Ich-Buch hat und sie nicht. Es ist normal, dass Marie zur Therapie geht und Paula mit mir im Wartezimmer spielt. Unsere Routinen sind für Paula selbstverständlich und ich glaube, sie profitiert davon genau so wie Marie. Immer wieder geht Paula mit ihrer großen Schwester in Kontakt. "Marie, fang mich!!!" lacht sie und rennt los. "Oh, Marie, schau mal, Mooooos!" ruft sie und zeigt Marie das, von dem sie weiß, dass es Marie gefällt.

Meine Kinder streiten sich viel, sind eifersüchtig aufeinander, und manchmal in einem Maß, bei dem ich mich frage, ob es Spuren hinterlassen wird. Doch im nächsten Moment will Marie ihre Schwester mit Eis von der Kita abholen und Paula in Maries Bett schlafen. Paula liebt ihre autistische Schwester sehr. Sie schont sie nicht, wenn ihre eigenen Interessen bedroht werden. Sie kämpft und klammert an mir, schreit "Marie, geh weg!". Paula würde mich nie alleine mit Marie spielen lassen, immer funkt sie dazwischen.
Viele Male habe ich den Satz hören dürfen, dass Paula nicht zu kurz kommen dürfe. Jedes Mal antworte ich, dass Paula sehr gut für sich sorgt. Sie steckt nicht zurück, sie fordert lautstark ein.

Man merkt aber auch, dass sich die Rollen in unserem Familiensystem geändert haben. Schon lange ist Paula nicht mehr die kleine Schwester. In allen Bereichen ist sie Marie oft meilenweit voraus. Sie ist diejenige, die sagt: "Marie, ich helfe dir" und versucht ihrer großen Schwester beim Anziehen zu helfen. Es gibt ein Video von den beiden, bei welchem Marie einen Rucksack trägt und sie zu Paula sagt: "Mama auf". Paula antwortet im gleichen Singsang, mit dem auch ich Marie korrigierendes Feedback gebe: "Paula auf. Paula Rucksack auf." Es macht mich stolz, rührt mich und gibt mir gleichzeitig einen ordentlichen Stich ins Herz.

Kann man den Verlauf beeinflussen?

Natürlich wäre es schön, gäbe es ein Patentrezept für glückliche Familien. Aber dazu sind Menschen zu unterschiedlich. Ich denke, wie es einem Geschwisterkind geht, hängt von unglaublich vielen Faktoren ab, wie beispielsweise die Art der Behinderung genauso wie die Ressourcen und Probleme jedes Familienmitglieds (am Ende ist Familie schließlich ein sich beeinflussendes System), und eben auch der finanziellen Mittel, Außenkontakte, Werte der Familie.

Trotzdem möchte ich an dieser Stelle meine Gedanken zusammenfassen, was in meiner Herkunftsfamilie möglicherweise geholfen hat, was wir aktuell bei uns ausprobieren, und was davon funktioniert.

Das Dorf

Es gibt diesen Satz, dass man ein Dorf benötige, um ein Kind groß zu ziehen. Betrachte ich meine Kindheit, so gab es tatsächlich mehrere Bezugspersonen für mich. Wir lebten im Haus meiner Großeltern väterlicherseits und auch wenn das Zusammenleben mit Großeltern sicher nicht unproblematisch ist, war es für uns Kinder ein Segen. Es gab eben immer die Oma, zu dem eines von uns konnte. Meine Mutter, ganz klassisch westdeutsche Hausfrau, hatte viele Freundinnen mit Kindern und wir alle, meine Freunde und ich, wuchsen ganz normal mit meinem Bruder auf. Nicht nur für mich war es selbstverständlich, auch für meine Freundinnen war es kein Thema.

Hier haben wir dieses Dorf nicht. Auch ständig Besuch zu haben ist bei einem autistischen Kind nicht so ohne Weiteres möglich. Was wir also machen, ist, bei Playdates manchmal einen Babysitter für Marie zu engagieren. Während Marie mit ihrer Babysitterin dann zu Hause fangen spielt, besuchen Paula und ich Kitafreunde. Zum Geburtstag meiner besten Freundin gingen Paula und ich zu zweit, während Tim und Marie auf dem Spielplatz Sandburgen bauten. Wenn wir gemeinsam auf ein Kita-Fest gehen, habe ich immer eine 2. Person dabei, die sich auch um Marie kümmern kann, damit Paula in Ruhe ihre Kartoffelstempeltasche verzieren kann.

Exklusivzeit

Tim und ich teilen uns außerdem oft am Wochenende auf. Jeder übernimmt ein Kind und in dieser Zeit machen wir genau das, worauf das jeweilige Kind am meisten Lust hat. In dieser Zeit kann Paula all das tun, was sonst schwieriger ist. Wir bekochen die Puppe in der Puppenküche, spielen Obstgarten oder lesen Bücher. Diese Art das Wochenende zu verbringen ist sicher nicht gemeinhin das Konzept, das andere von Familien haben. Und auch wenn es einerseits anstrengend ist, auch am Wochenende nicht durchatmen zu können, so ist es andererseits auch die Zeit, in der wie die meisten Jubelmomente erleben, in der wir so viel Liebe und Wärme geben und empfangen, wie es zu viert kaum möglich wäre.

Genau so bekommt Paula ihre Mama-Exklusivzeit, während Marie in den Therapien ist. Wir sitzen im Wartebereich zusammen auf dem Boden, packen unsere Spielsachen aus und legen los. In dieser Zeit bin ich ganz bei Paula, nur wir zwei.

Gemeinsame Aktivitäten

Es gibt einige Dinge, die können Marie und Paula gut zusammen spielen. Bei den allermeisten gibt es jedoch Streit, Tränen und Chaos. Was zu Hause noch nicht gut klappt, ist, dass ich eine Aktivität mit der einen, die nächste mit der anderen mache. Das lassen beide Kinder, insbesondere Paula, nicht zu.
Wir lösen das Problem, in dem ich ein paar Spielsachen habe, die fast immer gehen, und diese bei Bedarf hervorhole. Beispielsweise lieben beide Kinder Höhlen bauen, Waffeln backen oder durch Tunnel kriechen. Wenn die Kinder puzzlen, hat Paula ein Puzzle mit mehr Teilen, so dass beide dasselbe, aber in ihrer Schwierigkeit, spielen können. Wenn ich Fördermaterialien bastel, gibt es auch eine entsprechende Version für Paula, so dass beide damit arbeiten können. 
Ein winziger Trick, der aber eine enorme Wirkung hatte, ist, dass Marie Paula mit einem Spielzeug oder einem Wassereis von der Kita abholt. Marie wollte über Wochen partout ihre Schwester nicht abholen und beim Aufeinandertreffen flossen direkt die Tränen. Dann begannen wir, Paula ein Eis (also gefrorenes Wasser) mitzubringen. Marie war so stolz ihrer Schwester etwas zu schenken und Paula strahlte jedes Mal vor Glück. Seitdem ist es ein Ritual geworden, dass Marie ihrer Schwester etwas von zu Hause mitbringt und fordert das sogar von selbst ein: "Paula ab. Eis mit." 

Verantwortung übernehmen, Offenheit und Stolz

Was meine Eltern wirklich gut hinbekommen haben, ist, uns Kindern das Gefühl zu vermitteln, dass sie die Verantwortung für die Entscheidungen tragen, dass kein Kind schuld daran ist. Vielleicht gab es auch gar nicht so viele Einschränkungen, ich kann das heute nicht mehr recht entschlüsseln. Genauso waren meine Eltern absolut offen in Bezug auf die Diagnose. Das war nichts was man verstecken oder für das man sich schämen sollte.  

Ich frage mich, wie es meine Eltern geschafft haben, dass ich so stolz auf meinen Bruder war. Dass wir alle so mitgefiebert haben. Mein Bruder war für die damaligen Verhältnisse sicher auch ein sehr fittes Down-Syndrom-Kind und kein schlimmer Pflegefall. Das hat womöglich geholfen. Und trotzdem: Ich glaube, dass meine Eltern aktiv eine Umgebung geschafft haben, in der mein Bruder und ich Anerkennung bekommen haben. Ich wünsche mir sehr, dass auch uns das gelingen mag, dass Paula Freude hat, wenn sie sieht, was Marie alles kann. Wir versuchen an beide Kinder Ansprüche zu stellen, die ihrem Entwicklungsstand entsprechen. Wir versuchen jedes Kind darin zu sehen, wie es ist und es darin zu bestärken auch den anderen so wahrzunehmen.

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