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Die Sache mit der Nonverbalität


Image by Gerd Altmann from Pixabay 
Kinder beim sprechen lernen zu beobachten macht mir riesige Freude. Paula reißt die witzigsten Sprüche ("Mama sagt nein. Ich sage doch!") und immer größer werden die Einblicke, was in ihrem kleinen Kopf alles vor sich geht.

Marie ist mit ihren bald 4 Jahren noch ein ganzes Stück davon entfernt, mir auf verbalem Wege sagen zu können, was sie beschäftigt. Jeder Zwei-Wort-Satz ist hart erkämpft und bleibt für Außenstehende doch oft unverständlich. Es bedarf viel Einfühlungsvermögen, viel genaues Hinhören und manchmal auch ein wenig Fantasie, um Maries Laute und Worte in einen Zusammenhang zu bringen. Anderen Eltern ist diese Problematik bewusst und können mitfühlen. Ich glaube jedoch, dass die tatsächlichen Schwierigkeiten, die durch eine Sprachentwicklungsverzögerung entstehen, oft anders, manchmal auch größer, sind als sich Nicht-Betroffene das vorstellen können.

"Nur weil Marie nicht spricht, heißt es nicht, dass sie dich nicht versteht."

Therapeuten, Angehörige, Freunde und ja, manchmal auch ich, übersehen, dass Marie ihnen und den Gesprächen sehr aufmerksam folgt, auch wenn sie scheinbar abwesend wirkt. Und so werde ich munter nach den aktuellen Problemen gefragt oder persönliche Einschätzungen über Maries Verhalten verkündet. Bei einem sprechenden Kind würde man dies nicht tun. Ich erzähle daher über Maries Anderssein so wenig wie möglich in ihrer Anwesenheit und wenn, dann in einer wertschätzenden Art. Ich betone beispielsweise wie toll sie mittlerweile Zwei-Wort-Sätze sprechen kann, statt zu erzählen, dass sie diese Sätze nur in geübten Zusammenhängen einsetzt.

Ganz schmerzlich mussten wir dies bei der MdK Begutachtung für den Pflegegrad erfahren. Marie musste bei dem Gespräch anwesend sein, welches ja darauf abzielt, all das zu erfassen, was ein Mensch nicht kann. Marie war damals 2,5 Jahre alt, sprach 4 Worte und wirkte bei dem Gespräch zwischen mir und der Gutachterin sehr unbeteiligt. Ich wurde gefragt, ob sie denn Laufrad fahren könne, was ich verneinte. Wir hatten ein Laufrad, welches jedoch ungenutzt in einer Ecke stand. Laufrad fahren war zu diesem Zeitpunkt kein großes Thema bei uns, das Wort also auch wenig im Einsatz. 10 Minuten danach schob Marie zum ersten Mal seit Monaten ihr Laufrad in den Raum und versuchte zu fahren... Mein abwesendes Kind schien also durchaus mitbekommen zu haben, über was für sprachen. 

"Willst du raus? Willst du raus? Willst du raus???" und andere Grenzüberschreitungen

Manchmal antwortet Marie nicht auf Fragen. In der Regel passiert dies, wenn ihre eigentliche Antwort "nein" lautet. Wenn sie etwas möchte, antwortet sie fast immer mit "ja". Da Marie "nein" noch nicht sagen kann (manchmal kommt ein "nnn"), behilft sie sich mit Gebärden, Kopfschütteln oder eben... Ignoranz. Manche Menschen verleitet das, die Frage einfach immer wieder zu stellen, anstatt das nicht ausgesprochene Nein zu akzeptieren. In dem Wunsch, dass Marie beim 5. Mal freudig aufspringe und freudestrahlend "Jaaaa!" riefe, wird die Frage nach dem Spielplatz einfach munter wiederholt. Ohnehin lasst sich nonverbale Sprache leicht ignorieren. Dies bemerkte ich vor allem noch vor einem Jahr, wenn beispielsweise Großeltern voller Enthusiasmus Marie auf den Arm nahmen und direkt losziehen wollten. Das Nicht-Wehren wurde als Zustimmung interpretiert. Wer genau hinsah, konnte jedoch bemerken, dass Marie sich noch gar nicht lösen konnte. Die Grenzen der lautstark brüllenden kleine Schwester wurden da leichter erkannt.
Natürlich kann man es sich leicht machen, wenn ein Kind nicht spricht und Entscheidungen einfach selbst treffen. Erklärt ein Kind: "Ich mach das alleine!", ist dies hingegen viel schwerer zu ignorieren. Ehrlicherweise profitiere auch ich manchmal davon: Wenn Marie durch einen Gegenstand überreizt wird, nehme ich ihr ihn weg. Dieses Grenzen setzen mag für Außenstehende krass erscheinen, ich weiß aber, dass Marie nicht in der Lage ist, sich von selbst zu lösen. Natürlich erkläre ich ihr das kurz - dass sie mit mir nicht diskutieren kann, macht die Sache aber sicher in diesem Moment einfacher. Insgesamt glaube ich, dass wir sprechenden Menschen eher Dinge erklären; bei nonverbalen übersehen wir die Notwendigkeit. Da Marie nicht nachfragen kann, liegt es an uns ihr unsere Welt so einfach zu erklären, dass sie sie verstehen lernen kann. 

Unterschätze Fähigkeiten und Fehlinterpretationen

Sprache dient nicht nur der Kommunikation, es hilft auch Wissen und Fähigkeiten abzuschätzen. Ich habe den Eindruck, nonverbale Menschen werden zu leicht unterschätzt. Nur weil sie nicht sprechen, heißt es nicht, dass sie nicht denken könnten. Gerade bei autistischen Menschen scheint es mir schwer, ihre Fähigkeiten adäquat einschätzen zu können. Vielleicht versteht Marie den Handlungsauftrag, sieht aber keine Sinnhaftigkeit darin, ihn zu befolgen. Während Paula in so einem Fall quietschvergnügt verkündet "Ich mache Quaaaatsch", kann ich höchstens an Maries fetten Grinsen erkennen, dass sie durchaus weiß, wohin sie die Gabel räumen soll, die Notwendigkeit davon aber deutlich in Frage stellt.

Rollenspiele, etwas, womit sich autistische Kinder häufig schwerer tun, sind natürlich großartig um Sprache anzuwenden. Paula liebt Rollenspiele. Ihre Fantasie scheint grenzenlos, aus Stöcken werden Löffel und es gibt nichts, was man nicht zu einer Eiswaffel, einer Pferdebürste oder anderem verwandeln könnte. Schaue ich mir diese Videos ohne Ton an, sieht es manchmal fast so aus, wie das, was Marie macht. Marie schüttet emsig Dinge um, verteilt Blätter und Karten. räumt Dinge ein und aus. Hochkonzentriert, aber stumm, geht sie ihrer Tätigkeit nach. Vieles von dem mag wirklich ein Reaktion-Folge-Spiel zu sein, bei anderem kann ich es schlicht nicht beantworten. Auch hier kommt sicher eine Interessensfrage hinzu: Nur weil Marie nicht die typischen Rollenspiele spielt, bedeutet es ja nicht, dass sie sich nicht auch Rollenspiele überlegt, die ihren Interessen entsprechen. Vielleicht, ja vielleicht, sind wir dann diejenigen, denen es an Fantasie mangelt, das eigentliche Spiel zu erkennen.

Denn du bist, was du sprichst

Über Worten lassen sich Interessen und Wesenszüge abschätzen. Natürlich kommt es nicht von ungefähr, dass in Maries überschaubaren Wortschatz Begriffe wie "Router" oder "Steckdose" auftauchen. Mit vollster Anstrengung versucht sie diese auszusprechen. Begeistert erzählt sie immer wieder von Papas Rasierer ("Asier hoch. Asier an. [Gebärde für hören]. Papa asier Bart. Bart [Gebärde für weg]. Frei übersetzt: „Da oben steht der Rasierer. Wenn der Rasierer an ist, kann ich ihn hören. Papa rasiert sich seinen Bart. Dann ist der Bart weg.")

Ein Fehlschluss bestünde jedoch, wenn man denke, dass dies ihre einzigen Interessen wären. Beispiel gefällig?: Marie lernte recht früh "Stopp" zu gebärden und sagt auch seit vielen Monaten dazu "Stossssss" (seit neustem auch gerne in einer unglaublich süßen, witzigen Abfolge: "Stopps! Halt. Lass das. Reicht!" :-D).  Diese Begriffe sind natürlich nicht unbedingt die, nun ja, einladendesten. Anschließend lernte sie "Tschuhuuus" und verabschiedete sich emsig von allen möglichen Personen, Lichterketten und Routern. Sehr süß, aber eben auch nicht unbedingt der Startpunkt einer Konversation. Wenn man mein Kind nur darauf reduzieren würde, könnte man meinen, sie sei an sozialen Interaktionen nicht interessiert.

Seit ein paar Wochen kann sie nun aber auch "Hallo" sagen und siehe da: Von nun an wird alles begrüßt und mein Kind wirkt direkt viel offener und interessierter. Es wäre ein Fehlschluss gewesen, die Unfähigkeit zur Begrüßung als Desinteresse zu interpretieren. Seitdem sie "meins", "deins", "ich" und "Paula" sagen kann, macht Marie auch deutlich, dass sie Besitzverhältnisse versteht und daraus gerne ein Spiel machen möchte. Seitdem sie "Paula mit" sagen kann, verstehe ich erst, dass sie Gegenstände für ihre Schwester mit in die Kita bringen möchte. Ich denke, wir tun gut daran, wenn wir bei unseren Kindern nicht die Sprachlosigkeit oder scheinbare Abwesenheit als Indiz für mangelndes soziales Interesse nutzen. Stattdessen lohnt es sich, alle verbalen wie nonverbalen Kommunikationskanäle gleichberechtigt anzuerkennen.

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