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Ein Jahr nach der Diagnose: ein Rückblick

Wir haben heute Jahrestag, sozusagen. Heute vor einem Jahr bekamen wir die offizielle Diagnose „Frühkindlicher Autismus“. F84.0 V. V für Verdacht, denn mit 2,5 Jahren wollte sich keiner so recht festlegen, obgleich Interview und Spielbeobachtung eindeutig waren. Im Arztbrief wurde dann auch aus dem V ein G, gesichert, damit uns keine Steine in den Weg gelegt werden.

Vielleicht ist heute also ein guter Tag um auf das vergangene Jahr zu blicken. Zu reflektieren, was die Diagnose mit uns gemacht hat (und was nicht). 

Obgleich ich die Aussage „dein Kind ist immer noch dasselbe“ wenig hilfreich nach der Diagnose empfand, beschreibt sie Maries Auswirkungen des Ganzen ziemlich passend. Marie ist (natürlich) immer noch Marie. Sie entwickelt sich, in ihrem Tempo, mit ihren Interessen, mit vielleicht etwas weniger Lachen, wobei dies nicht dem Umstand der Diagnose geschuldet ist, sondern vielmehr, dass die Ansprüche, die an eine 3,5 jährige gestellt werden, eben höher sind als noch mit 2,5 Jahren und wir eine Zeit gebraucht haben, um für Marie bessere (ich würde gerne schreiben optimale, aber das ist es nicht) Bedingungen zu finden.

Wer sich aber geändert hat, bin ich. Vermutlich bin ich weiterhin 1,76m groß, gefühlt bin ich jedoch 5cm gewachsen. Ich bin Autismusmama, ohne Wenn und Aber. Ich bin selbstbewusster in Bezug auf meine Töchter. Ich bin Übersetzerin, wenn es um Maries (oft fehlende, fast immer schwer verständliche) Worte geht, Formularkönigin und die beste Förderin, die es für Marie geben kann.

Biologisch bin ich ein Jahr gealtert, gefühlt eher fünf. Möglich, dass das ein allgemeiner Effekt des Mutterseins ist, dennoch spüre ich durchaus mehr Erschöpfung, mehr Falten, mehr uff. Als ich letztens eine Oma mit ihrem Rollator sah, nickte ich ihr freundlich zu, denn so ganz unähnlich sah ich über den Fahrradanhänger gebeugt auch nicht aus.  Ja, das Leben ist anstrengend. 
Auch wenn ich um Jahre gealtert bin, so bin ich dabei um Jahrzehnte weiser geworden. Disney würde mich weniger als die lebendig frohe Pocahantas zeichnen, sondern eher als die Weide, die Weisheiten verteilt. Ich urteile weniger und reflektiere mehr. Nehme besser meine eigenen Vorurteile wahr und übe mich (noch nicht wirklich überzeugend) im Hier und Jetzt sein.

Gerne würde ich schreiben, dass die Diagnose uns Türen zur Unterstützung geöffnet hat. Hat sie nicht. Auch nach einem Jahr Wartezeit, höre ich das Augenrollen der Sekretärin, die meint, dass ein Ende der Wartezeit für einen Therapieplatz nicht absehbar sei. Die Diagnose hat mich aber zum Bloggen und instagram geführt und damit zu einer Horde toller Menschen, die trotz aller  örtlicher Distanz die nächsten sind, wenn es um mein Erleben als Autismusmama geht.

Das Beste, das durch die Diagnose passiert ist, notiere ich bewusst knallhart: Das Beste an der Diagnose ist, dass die Hoffnung auf Normalität gestorben ist. 
Bumm. Einatmen, ausatmen. 

Ich meine das sehr ernst, denn wenn ich auf 2018 schaue, das Jahr vor der Diagnose, dann quälte mich am meisten die Unsicherheit. Die Hoffnung auf „Wird schon alles“ und die immer wieder einkehrende Realität von „nein, es wird, aber eben nicht so“. Der ständige Frage, ob das Verhalten denn nun autistisch sei oder nicht, ob Marie das alles noch aufholen kann, wie Marie Marie bleiben kann und sich trotzdem um 180 Grad verändern soll, um der Norm zu entsprechen. Seit dem 18.12.2018 denke ich nicht mehr so. Es geht nicht mehr um Meilensteine. Ich vergleiche uns seltener (nie wäre eine Lüge), bin dafür mehr bei Marie. Ich feiere Jubelmomente, in dem Wissen, dass es Momente und keine Änderungen sind. Ich freue mich unfassbar, wenn Marie Meilensteine erreicht, erwarte es aber nicht. Die damit verbundene Freiheit, die genieße ich (so sehr!), wenn ich mein weiterhin fröhliches, lustiges, Schokolade vergötterndes und uns liebendes Mädchen beobachte, wie sie ihre und unsere Welt entdeckt. 

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