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Unsere Erfahrungen mit Melatonin

Photo by Edoardo Tommasini from Pexels
Mehr als die Hälfte aller Autist*innen leiden unter Schlafproblemen. Mehr als die Hälfte! Wenn man bedenkt, wie wichtig Schlaf ist für die körperliche wie psychische Gesundheit, finde ich das wirklich erschreckend. Und wenn ich an Paulas erstes Lebensjahr zurück denke - Paula war eine katastrophale Schläferin - erinnere ich mich, wie ich als Mutter am Zahnfleisch ging (rw). Denn klar: wir, die unsere Kinder begleiten, schlafen entsprechend ebenfalls wenig (wenn nicht sogar weniger) und haben weniger Kraft, den kommenden Tag zu bewältigen.

Marie wiederum war immer eine super Schläferin, zumindest im Vergleich zu dem, was ich aus unserem Umkreis mitbekam. Natürlich hatten auch wir einige anstrengende Phasen (Tim kann hiervon ein Lied singen (rw)), aber unterm Strich konnten wir uns nicht beklagen. Spektakulär war vor allem Maries Einschlafroutine. Mit Beginn des 4. Lebensmonats hatten wir nämlich ein Kind, das vor Entzückung gluckste und mit den Armen wedelte, wenn sie merkte, dass sie ins Bett durfte. Ein Freund, der uns einmal beim Ins Bett bringen beobachtete, brachte es sehr schön auf den Punkt: "Ich habe noch nie ein Kind gesehen, dass sich so sehr auf sein Bett freut." Sie konnte es wirklich kaum abwarten. Gute Nacht Kuss. Licht aus. Fertig. Unser Kind schlief ohne Einschlafhilfe ein. Während wir im Nachbarzimmer lauschten, hörten wir ein Baby, das fröhlich brabbelte und dann irgendwann friedlich einschlief. Natürlich gab es auch hier Momente, an denen sie uns beim Einschlafen benötigte, aber meistens waren wir eher störend, hielten sie sogar eher wach.

Es hat tatsächlich eine lange Zeit gedauert, bis wir uns eingestanden hatten, dass Marie eine schlechtere Schläferin geworden war. Es begann damit, dass wir sie nachts nicht mehr zu uns ins Bett holen konnten. In dem Moment, in dem sie in unserem Bett lag, wurde sie unruhig, lautierte, stand auf, hüpfte... die Nacht war quasi beendet. Gleichzeitig brauchte Marie aber unsere Nähe, so dass Tim begann, ab der Mitte der Nacht auf einer Matratze neben ihr zu schlafen.
Im Mai bemerkte Marie dann, dass sie aus ihrem Gitterbett klettern kann. Natürlich weiß ich, dass Marie nicht das erste Kind mit dieser Idee ist. Die Ausmaße jedoch, die dieses Drama annahm, waren gigantisch. Der Drang, immer und immer wieder zu klettern, egal wie erschöpft und müde sie war, war einfach zu groß. Wir versuchten alles mögliche, um sie zum liegen bleiben zu motivieren- egal ob Kuscheltier, Musikbox, Vorlesestift, Vorsingen, Streicheln, Händchen halten, Gewichtsdecke, völlige Dunkelheit, weniger Dunkelheit, wir bauten sogar das Bett um... Marie war nicht dazu zu bringen, liegen zu bleiben. Wir variierten auch unseren Tagesablauf und unsere Abendroutine: egal ob viel oder wenig Action, viel drin oder draußen sein, egal, ob später oder früher ins Bett... es spielte keine Rolle. Egal, wann wir sie hinlegten, es dauerte in der Regel 2-2,5 Stunden, bis sie schlief. Lange Einschlafbegleitungen sind anstrengend, wenn aber das Kind dabei heult und schreit und weint, dann sind sie, zumindest für mich, unerträglich. Ich hielt Marie an ihrem Schlafsack im Bett fest, fauchte sie an (was, wenig überraschend, exakt nicht half) und weinte mit. Am nächsten Tag mussten wir Marie wecken, und wer denkt, dass ein Kind, das zu wenig schläft, am nächsten Abend schneller einschläft, den muss ich leider enttäuschen. Gerade die Müdigkeit, so schien es uns, hielt sie vom einschlafen ab. Dabei sei einfach der Vollständigkeit angemerkt: Marie macht keinen Mittagsschlaf und benötigt 11,5 bis 12,5 Stunden Schlaf pro Nacht. Da sie spätestens 7.30 aufstehen muss (optimal ist 7.00, damit sie in Ruhe frühstücken kann), war es für uns bereits problematisch, wenn sie um 21.00 ins Bett ging. Das mag für viele eine normale Uhrzeit sein - für Marie (und uns) nicht. Schläft Marie mehrere Nächte weniger als 11,5 Stunden, ist sie gereizter und wuseliger. Unter 10,5 Stunden ist sie in einer Dauerüberreizung, die sich in ständigem auf und ab rennen, Dinge durch die Gegend werfen und Wutanfällen zeigt. Und ja, auch ich bin dankbar, dass ich die Abende für mich und uns habe, denn sie helfen mir genug Kraft für den nächsten Tag zu tanken. 

Im September sprach ich mit unserer Kinderneurologin und sie verschrieb uns Slenyto, ein Melatoninpräparat in retardierter Form. Melatonin ist ein Hormon, dass den Tag-Nacht-Rhythmus bei Menschen steuert. Abends, wenn es dunkel ist, wird mehr Melatonin ausgeschüttet und kann beim Einschlafen helfen (Wer lange Zeit in abgedunkelten Kinderzimmern verbringt, kennt vielleicht die eigene Müdigkeit, die damit oft einhergeht). In der retardierten Form (wie bei Slenyto) wird es kontinuierlich über die Nacht ausgeschüttet und soll damit Durchschlafstörungen vorbeugen. Im Laufe der Nacht baut der Körper Melatonin wieder ab. Da Melatonin also "natürlich" ist, und bislang wenig Nebenwirkungen bekannt sind, greifen viele Ärzte (und Familien) darauf zurück.

Wir waren erst mal skeptisch. Am Ende ist Melatonin schließlich immer noch ein Hormon und wer weiß, welche längerfristigen Folgen es hat, in den Tag-Nacht-Rhythmus von Kindern einzugreifen. Unser Körper ist solch ein sensibles System, dass wir vorsichtig waren. Nach fünf Monaten ging es aber einfach nicht mehr. Nicht mehr für mich, nicht mehr für Tim und auch nicht mehr für Marie. 

Also gaben wir ihr abends vor dem Einschlafen 1 mg Melatonin, legten Marie hin und es dauerte keine 10 Minuten und unser Kind schlief tief und fest. Wir lösten die Schlupfsprossen des Gitterbetts, so dass Marie ohne Probleme in ihr Bett rein- und rausgehen konnte. Trotzdem: Sie blieb liegen. Das war schon eine krasse (durchaus auch ein wenig gruselige) Erfahrung. Als sie nachts wach wurde, kam sie zu uns ins Bett (manchmal alleine, oft geholt), kuschelte sich an Tim und schlief glücklich und zufrieden weiter. Ich hätte schreien können vor Glück. Wir hatten unsere Kuschel-Marie wieder, sie hatte uns wieder und wir bekamen alle wieder einen besseren und glücklicheren Schlaf. Das soll an dieser Stelle auch genauso kitschig klingen, wie es das tut. Ich war einfach unfassbar erleichtert. 

Natürlich blieb die Sorge, was wir mit Maries Biorhythmus und ihrer eigenen Melatoninproduktion machten. An dieser Stelle möchte ich Anna danken, denn sie - und nicht etwa unsere Ärzte - erklärten, dass nach 3 Monaten ein Absetzversuch gewagt werden könne. Zu diesem Zeitpunkt - so ein Professor eines Schlaflabors - habe der Körper verstanden, dass er Melatonin zum Einschlafen benötige und werde gezwungen es selbst zu produzieren. Nach ca. 2 Monaten schien uns der Zeitpunkt günstig: Marie war durch einen Infekt ohnehin sehr müde und dank der Zeitumstellung war es wieder früh dunkel. Wir hatten außerdem den Eindruck, dass sie verstanden hatte, dass man einfach im Bett liegen und entspannen kann, ohne zu hüpfen oder zu klettern. Wir setzen also Melatonin ab und schauten, was passiert. 

Seitdem sind 1,5 Monate vergangen, für ein langfristiges Fazit ist es daher vermutlich noch zu früh. Folgendes kann ich jedoch berichten: Wir brauchen aktuell durchschnittlich eine Stunde zum Einschlafen- das ist eine riesige Erleichterung! Marie bleibt in ihrem Bett in der Regel liegen, wobei ich neben der Schlupfsprossenlücke sitzen bleiben muss. Sie weint nicht, protestiert nicht. Ich muss mehrfach „Schnuller tauschen“ oder die Trinkflasche reichen, sie wirkt dabei jedoch entspannt. Nachts kommt sie manchmal von alleine zu uns, meistens möchte sie geholt werden. Sie kuschelt sich dann an uns („kullekulle“- gibt es eigentlich ein schöneres Wort dafür?) und schläft weiter. Sicher, nicht jeder Abend und jede Nacht laufen optimal, aber unser aller Leben ist so, so viel entspannter.

Ich gehe davon aus, dass spätestens im nächsten Sommer wieder eine Phase kommen wird, in der wir über Melatonin nachdenken werden. Vielleicht auch früher, wer weiß. Für den Moment bin ich jedoch einfach dankbar, dass wir ohne Hilfe und mit ausreichend Schlaf auskommen. 

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