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Über Ambivalenz

Bild von Hans Braxmeier auf Pixabay 
Menschen - oder machen wir es konkret: ich - bin schon manchmal ein kurioses Wesen. Mir fällt auf, dass ich es mir und meinem Umfeld nicht immer leicht mache. Und seien wir auch hier konkret: ich meine damit meine oft zwiegespaltene Haltung zwischen „Ihr habt echt keine Ahnung, wie es wirklich ist!“ und „Ach, so anders sind wir doch gar nicht!“.

"Ihr mit euren Problemchen!"

Offline, also im „echten“ Leben, kenne ich kaum Familien mit behinderten Kindern. Im Gegenteil: in meiner Blase sind alle irgendwas Anfang bis Mitte 30, gut situiert, sehr gut ausgebildet, 0 bis 2 Kinder. Die Mütter arbeiten (ganz selbstverständlich) auch, zumindest Teilzeit, und alle reiben sich irgendwie mehr oder weniger an den eigenen Zielen und Ansprüchen auf. Soweit gehören wir noch voll dazu... und dann kommt eben Marie.
Alle haben Verständnis, alle haben Respekt. Ich kann mich also wenig beschweren. Dennoch finde ich es oft schwer, Worte für unser Leben zu finden, auszudrücken, welche Last wir mit uns tragen, ohne zu klagen oder zu jammern, aber mit dem Nachdruck, der unsere Welt verstehbar werden lässt. Hinzu kommt, dass ich, glaube ich, an sich ein positiver Mensch bin, und es mir wichtig ist, dass wir Marie (und Paula) nicht den Eindruck geben, sie seien eine Belastung für uns. Diese Haltung mag Andere darüber hinweg täuschen, dass unser Leben eben doch an manchen Punkten grundlegend anders ist als ihres.

Wenn andere Mütter dann von ihren Herausforderungen erzählen, ertappe ich mich manchmal dabei, wie ich genervt „Boah, diese Pillepalle Probleme!“ denke. Mein Gott, dann kann dein Kind mit 3 Jahren eben noch kein "Sch" aussprechen! Dein Kind klebt auf dem Spielplatz nur an dir? Wie schön, meins hat gerade wieder herausgefunden, wie es das Tor öffnen und abhauen kann. Wirklich, dein Kind textet dich den ganzen Tag zu und das nervt? ...Tjo.

Dabei darf ich nicht vergessen, dass "schwierige Kinder haben" kein Wettstreit ist, genauso wenig wie trocken werden, Zwei-Wort-Sätze sprechen oder die Ausführung eines Rückwärtssalto mit Doppellooping. Wenn ich diese Vergleiche - zu recht - kritisiere, dann darf/ will ich an anderer Stelle auch die Herausforderungen Anderer nicht auf mich beziehen. Ich möchte die Freundin sein, die sagt: "Oh, das beschäftigt dich gerade wirklich!" statt: "Deine Probleme möchte ich auch gerne haben", die fragt: "Was würde dir helfen?" statt: "Da müsst ihr halt durch." und die antwortet: "Ja, ich weiß auch manchmal nicht weiter" statt: "Ich krieg's schließlich auch hin".

"Alles nicht so schlimm"

Soweit so gut. Was aber das wirklich kuriose hier ist, ist, dass ich von einem Augenblick auf den nächsten eine 360° Drehung vollführe und meinem Gegenüber zu verstehen gebe, dass das alles eigentlich gar nicht so dramatisch bei uns ist. Und ich meine das vollkommen ernst!

Während ich mich eben noch innerlich über die Pillepalle Probleme Anderer aufregte, bin ich im nächsten Moment dankbar, dass diese Familien auch Herausforderungen haben. Die Freundin mit der emotionsstarken Tochter macht mir Mut, dass Gefühlsausbrüche normal sind. Den 3,5-jährigen Sohn, der es nach sieben Wochen Eingewöhnung immer noch nicht länger als drei Stunden im Kindergarten aushält, lasse ich innerlich hochleben und die Zwillinge, die sich gegenseitig die Köpfe einschlagen, bekommen einen extra Dankbarkeitssticker in mein imaginäres Stickeralbum geklebt, dafür, dass sie mir und der Welt zeigen, dass auch andere Familien Geschwisterrivalitäten kennen. Kinder, die aus der Reihe tanzen (welch wunderschöne Redewendung im übrigen!), sind meine Helden. Nicht, weil sie es ihren Eltern schwer machen, sondern weil sie zeigen, wie normal es ist anstrengend zu sein. Ich nehme diesen Satz in meine Mutmach-Mantras auf: Es ist normal, anstrengend zu sein.

Jede Familie hat Stärken und Schwächen, hat gute wie schlechte Tage. Unterm Strich finde ich meine Familie ziemlich, nein, sagen wir: MEGA, großartig. Ich habe einen tollen, involvierten Mann und zwei herzensgute, witzige, leidenschaftliche Töchter. Wir erleben viele Jubelmomente. Ja, vieles ist bei uns anders, manches sicher auch schwerer, aber wenn sich abends beim Insbettgehen meine Töchter an mich kuscheln, dann ist für mich die Welt in Ordnung.

Die Lösung: Eine friedlich-spannende Koexistenz

Ich denke, beide Seiten haben ihre Berechtigung. Es ist ok zu schwanken. Unser Leben ist schlimm und nicht schlimm zusammen. Unser Leben ist erschöpfend und nicht erschöpfend zusammen. Unser Leben ist anstrengend und nicht anstrengend zusammen.
Wir sind eben: eine Variante von Normal.

Unsere Mühe und unser Einsatz ist etwas, was Anerkennung verdient, ohne dabei bemitleidet zu werden. Genau so, wie es mir manchmal schwer fällt die richtigen Worte zu finden, so schwer ist es mindestens für mein Gegenüber. Lege ich jedes Wort auf die sprichwörtliche Goldwaage, ist das Potenzial enttäuscht zu werden groß. Wenn ich jede fremde Herausforderung mit unseren vergleiche, wenn Freunde und Verwandte befürchten müssen, etwas Falsches zu sagen, werden Interaktionen zum Krampf. Nicht zuletzt dank dieses Blogs habe ich Menschen gefunden, die mich, meine Gedanken und Gefühle verstehen. Denen ich diese Zeilen gar nicht schreiben müsste, sie wissen, was ich meine. Doch, wie heißt es so schön: das wahre Leben findet offline statt. Wenn ich gleich den Laptop zuklappe, dann erwartet mich ein Umfeld, dass für mich da sein will, wenn ich es zulasse und ihnen zeige wie.

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