Kühe vor unserem Fenster |
Willkommen in Wangen! Für vier Wochen sind wir zur
Kinderreha in Wangen im Allgäu. Wir, das sind in diesem Fall Marie mit Paula und
mir als Begleitpersonen. Tim kommt immer von Freitagmorgen bis Montagmorgen
dazu.
Die erste Woche war für uns alle krass. Krass, weil wir so
etwas wie Kinder-Reha noch nicht kannten. Krass, weil es so viel Neues gab. Und
krass, weil ich mich zwischen Kuhglocken und Therapieplänen plötzlich in einer –
krassen - Sinnkrise befand. Aber fangen wir vorne an.
Das Klinikgelände selbst ist schön. Die Apartments sind
frisch renoviert und wir haben viel Platz. Keine Deko, stattdessen Tripptrapp
auf dem Zimmer- man merkt, die Leute haben sich Gedanken gemacht. Neben unserem
Schlafzimmer gibt es einen eigenen Wohnbereich, so dass wir auch gut drin
abhängen und uns zurückziehen können. Die Rollos sind leider nicht so
lichtundurchlässig wie für uns nötig,
aber mit den Verdunklungsvorhängen von zu Hause haben wir eine gute Lösung
gefunden. Fast alle Mitarbeiter sind wahnsinnig freundlich und sehr bemüht unseren
Aufenthalt so positiv wie möglich zu gestalten.
Zwischen den verschiedenen Gebäuden, die zur Klinik gehören, liegen weite, grüne Wiesen.
Es gibt neben zig Spielgeräten, die auf dem Gelände verteilt sind, einen großen
Spielplatz, ein Schwimmbad und sogar einen Indoorspielplatz. Direkt neben der
Klinik liegt ein kleiner Wald (für uns super wichtig!) und keine Minute von
unserem Schlafzimmer grast schon die erste Kuh.
Über die Mahlzeiten hatte ich mir im Vorfeld recht große
Sorgen gemacht, aber es klappt erstaunlich gut. Wir haben uns einen Tisch
abseits ausgeguckt und – Achtung, #Jubelmoment – die Kinder bleiben tatsächlich
mehrere Minuten brav sitzen, während ich bei der Essensausgabe das Essen hole.
Das Essen hat Kantinenniveau, soll heißen: die Kinder finden’s toll, ich eher
so mittel.
Maries Therapieplan umfasst jeden Morgen „Hallo wach“, ein
20 minütiger Sing- und Turnkreis mit mir und vier anderen Mutter-Kind-Paaren. Außerdem gibt es jede Woche 2x 45 min
Einzel-Logo, 1x Ergo in der Kleingruppe (mit zwei anderen Kindern), 1x Schwimmen
und 2x Turnen. Während ich Schulungen habe oder wenn die Kinder wollen, gibt es
die „Pädagogische Gruppe“, also sozusagen die Krippe bzw. den Kindergarten.
Morgens kann man dort sein Kind für 2,5 Stunden abgeben, nachmittags zwei Stunden. Eine Eingewöhnung à la Berliner Modell ist natürlich nicht möglich, aber die Kinder schlagen sich wacker. Wenn Marie in der Krippe ist, kommt regelmäßig eine Sonderpädagogin hinzu, die mit Marie
einzeln spielt. Ich selbst habe jede Woche eine Schulung zur Sprachförderung
und zwei Mal wöchentlich sogenannte Elterngespräche über Themen, die für uns
Eltern wichtig sein könnten (heute beispielsweise Stressmanagement).
Klinikgelände |
Ihr seht: unser Plan ist vollgepackt bis oben hin, die
Kinder müssen zig neue Personen kennen lernen, sich in ständig wechselnde
Gruppen einfügen, und das alles in einer fremden Umgebung ohne ihre gewohnten
Rückzugsmöglichkeiten. Während ich meine Kinder beobachte - Schnuller im Dauereinsatz, Marie, die wild
umherrennt, bei Kleinigkeiten ausflippt - stelle ich mir eine der Fragen, die
mir wirklich richtig wehtut, nämlich: Für wen machen wir das hier
eigentlich? Für mich oder meine Tochter?
Hat man ein Kind mit Behinderung, muss man sich die Frage
stellen, wie man damit umgehen möchte. Welche Förder- und Therapieangebote nimmt
man an, welche lehnt man ab? Was ist ethisch vertretbar, was ist
wissenschaftlich fundiert, was tut meinem Kind gut? Wir Eltern fürchten uns
einerseits das Kind zu überfordern, es vielleicht sogar nicht so anzunehmen,
wie es ist, und gleichzeitig wichtige Chancen zu verpassen, ihm Wege in die
Selbstständigkeit zu ermöglichen.
Nun sitze ich hier in der Reha, sehe, was ich meinen Kindern
zumute und frage mich (ich schreibe das jetzt mal so knallhart auf, wie es mir
in den Kopf kommt): Was tun wir hier eigentlich? Sind wir in Reha, weil ich mir
eigentlich ein anderes Kind wünsche?
Denn seien wir mal ehrlich: Wir sind ja nicht wegen der
Kuhglocken da, sondern weil ich hoffe, dass Marie hier weitere Schritte in
Richtung Spracherwerb und Interaktionsverhalten macht. Wieso kann ich es nicht
abwarten, ihr Zeit lassen, wieso bringe ich uns in diese Lage, wieso, ja,
wieso, kann ich mich - Gott verdammt nochmal - nicht mit unserem Status Quo
zufrieden geben- und das, obwohl Marie fröhlich ist und wir solch tolle
Fortschritte machen.
Ich denke an den Spruch „Gras wächst nicht schneller, wenn
man daran zieht.“ Und natürlich auch an „Der Junge, der zu viel fühlte“ und dass
das alles zu viel sein könnte für Marie.
"Unser" Waldweg |
Bevor ich aber die Koffer packe, halte ich inne und sortiere
mich. Was brauchen wir? Was ist wirklich zu viel und was eigentlich ziemlich
gut? Die ländliche Ruhe ist toll, die großen Wiesen, auf denen die Kinder
einfach nur rennen oder Ball spielen können. Die Therapeuten sind engagiert und
bisher hat Marie jede Art der 1:1 Interaktion gefallen. Ich mache Fotos von
allen Therapeuten und bastele uns mit unseren Bildkarten einen Therapieplan für
Marie. Wir entdecken den Waldspaziergang als Ruhepol nach vollen Vormittagen.
Ich kaufe Müsli und Milch, so dass wir auch bei uns auf dem Zimmer zu Abend
essen können, wenn es zu viel wird. Ich streiche alles aus unserem
Therapieplan, was ich für unnötig oder überfordernd erachte. Wir kuscheln uns
ins Bett und ich singe so oft „Kommt ein Vogel geflogen“, bis die Mädels zur
Ruhe kommen.
Ich merke, wie wir langsam in unsere Routinen hereinkommen. Im Gespräch mit Tim spreche ich aus, worauf ich wirklich stolz bin: Wie verdammt gut wir unseren Alltag zu Hause hinbekommen. Manchmal muss man erst wegfahren, um zu merken, wie gut man eingespielt ist. Was für Vollprofis wir mittlerweile sind! Dieses Selbstwirksamkeitserleben stärkt mich. Plötzlich erscheint mir auch die Reha machbar. Vielleicht machen wir die Reha nicht so, wie sie geplant ist, aber wir machen sie so, dass sie uns nützt und Spaß bereitet. Mit einer Prise Optimismus starten wir also in die nächste Klinikwoche und sind gespannt, wie es weitergeht.
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