Direkt zum Hauptbereich

Wenn die Kinder schwierig sind...

Photo by Oleg Magni from Pexels
In einem früheren Beitrag hatte ich ja schon geschrieben, dass es gerade etwas anstrengender bei uns ist. Vermutlich gibt es für solche Phasen kein Patentrezept (außer vielleicht Geduld) und gerade für uns, als junge Eltern, die mit Autismus bis vor kurzem nichts am Hut hatten (rw), ist es noch ein Ausprobieren. Und ein Versuch ging ziemlich in die Hose.

Marie ist nicht gut drauf. Sie lacht weniger, weint und schreit dafür umso öfter, haut und beißt (beides etwas komplett Neues für uns!) und wirkt mit sich und der Welt überfordert. Wir leiden mit und würden ihr gerne alles, was sie gerade beschäftigt, abnehmen und den Weg für sie gehen. Nur leider geht das nicht. Und wir wissen noch nicht mal, was genau eigentlich gerade los ist. Ist es zu viel? Braucht sie mehr Zeit für sich? Oder mit mir? Überfordert sie etwas? Ist etwas in der Kita passiert, das sie nicht loslässt? 

Pause, Ruhe, Runterschalten

Wir entschieden uns also, für eine gewisse Zeit Marie ihr Ding machen zu lassen. Sie sollte das tun und lassen, was ihr gerade gefällt (sofern es nicht gefährlich ist) und zur Ruhe kommen. Wir entschieden uns bewusst wenig am Wochenende zu unternehmen, wollten Marie beobachten und auf ihre Bedürfnisse eingehen. Klingt doch gut, oder?

Das Wochenende lief ok, aber Marie war weiterhin sehr in ihrer Welt mit Wutanfällen und wenig gemeinsamen Spiel. Also entschied ich mich, auch an den folgenden Tagen außer den Therapien nichts zu planen und Marie für sich zu lassen. Nach der Kita ging Marie also sofort in ihr Zimmer, nahm sich ihre Musikbox und hörte Musik. Sie blieb jedoch nicht bei einem Lied, sondern spulte vor und zurück, es schien ihr fast egal, welches Lied eigentlich lief. Ich erkundigte mich immer wieder, ob sie dies oder jenes machen wollte, bekam aber selten eine Antwort. Auch die Mahlzeiten waren schwierig, an unser gemeinsames Abendritual war schon gar nicht zu denken. Nur wenn Marie abends im Bett lag, wollte sie lange Händchen halten und gestreichelt werden.

So ging es weiter. Ich schwankte zwischen so viel Mitgefühl, dass ich hätte weinen können, gemischt mit Ärger über das Chaos durch durch die Gegend geworfene Gegenstände und die Kratzer, die sie mir und Paula verpasste und Angst, wann (und ob!) das wieder aufhört. Und dann kam es mir: Das Problem ist die Struktur! 

Freiraum kann auch Stress sein

Natürlich war es sinnvoll und wichtig einen Gang runterzuschalten. Alleine schon um Maries Gefühlen Platz zu machen. Aber was wir dabei übersehen hatten, war, dass sie mit zu viel freier Zeit auch überfordert ist. Es war zwar gut gemeint, sie in ihr Zimmer gehen zu lassen, aber wenn sie so in ihrer Welt ist, fällt es ihr noch schwerer ihre Bedürfnisse auszudrücken. Hunger? Durst? Müdigkeit? Da wir gerade erst mit Bildkarten beginnen, ist auch der visuelle Kommunikationsweg noch ein schwieriger.

Ich fing also an, wieder unsere alte Struktur aufzubauen: Nach der Kita in den Hochstuhl, etwas Kleines essen. Anschließend direkt Puzzle und Malen am Tisch. Danach: durch die Wohnung rennen. (Die ersten Tage wollte sie alleine, später durfte ich wieder mitmachen). Die Musikbox verstecken und später für begrenzte Zeiträume wieder hervorholen. Raus gehen, auf unseren Lieblingsspielplatz. Tauben beobachten. Nach und nach kamen wir wieder in unseren Alltagstrott und Marie wurde fröhlicher. Das Hauen blieb, wir übten die Stop-Gebärde und eine Geste zur Entschuldigung.

Vielleicht war es die Zeit, die uns geholfen hat. Sicherlich auch die Ruhe, das liebevolle Beobachten. Ich glaube aber auch, dass wenn ich Marie nicht aktiv an die Hand genommen hätte und sie zurück in ihre Struktur gebracht hätte, es schlimmer geworden wäre. In jedem Fall habe ich gelernt, dass wir einen Mittelweg zwischen Auszeit einerseits und festgelegter Struktur andererseits finden müssen.

Kommentare

Beliebte Einträge

Über das Selbstwertgefühl bei (neurodivergenten) Kindern

In meiner Arbeit als Psychotherapeutin kommt bei fast allen Patient*innen früher oder später das Thema Selbstwertgefühl zur Sprache. Zu Hause als Mutter frage ich mich, wie ich meine autistische Tochter darin unterstützen kann, ein stabiles Selbstwertgefühl zu entwickeln- in einer Welt und einem Alltag, der ihr immer wieder zeigt, dass sie "anders" ist.  Eine kleine, aber wichtige Alltagsbeobachtung Letzte Woche bei der Ergotherapie beobachtete ich folgende Szene: Eine Mutter unterhielt sich in Anwesenheit ihrer ca. siebenjährigen Tochter über die Therapiestunde mit der Ergotherapeutin. "Sie hat sich heute richtig gut konzentriert", meinte die Therapeutin und die Mutter antwortete: "Oh wie schön, dann hatte sie heute also einen guten Tag."  Warum schreibe ich über diese Beobachtung und was hat sie mit Selbstwertgefühl zu tun? In der Psychologie sprechen wir von Attributionen, also von Ursachenzuschreibungen. Es ist ein spannendes Feld, denn e

Die Sache mit der Nonverbalität

Image by  Gerd Altmann  from  Pixabay   Kinder beim sprechen lernen zu beobachten macht mir riesige Freude. Paula reißt die witzigsten Sprüche ("Mama sagt nein. Ich sage doch!") und immer größer werden die Einblicke, was in ihrem kleinen Kopf alles vor sich geht. Marie ist mit ihren bald 4 Jahren noch ein ganzes Stück davon entfernt, mir auf verbalem Wege sagen zu können, was sie beschäftigt. Jeder Zwei-Wort-Satz ist hart erkämpft und bleibt für Außenstehende doch oft unverständlich. Es bedarf viel Einfühlungsvermögen, viel genaues Hinhören und manchmal auch ein wenig Fantasie, um Maries Laute und Worte in einen Zusammenhang zu bringen. Anderen Eltern ist diese Problematik bewusst und können mitfühlen. Ich glaube jedoch, dass die tatsächlichen Schwierigkeiten, die durch eine Sprachentwicklungsverzögerung entstehen, oft anders, manchmal auch größer, sind als sich Nicht-Betroffene das vorstellen können. "Nur weil Marie nicht spricht, heißt es nicht, dass sie dich

Kliniktagebuch: Wochen 2 und 3: Ein Zwischenfazit

Nun ist die Reha schon fast wieder vorbei. Mittlerweile sind wir gut im Klinikalltag ankommen, auch wenn Marie häufig wenig Lust auf die Angebote hat und lieber kuscheln möchte. Durch liebevolles Zureden, Bildkarten und Erklärungen lässt sie sich aber meistens doch auf die Aktivitäten ein und hat dann viel Spaß daran. Auch sonst habe ich einiges beobachten und erfahren dürfen, was ich sicher ohne Reha nicht erkannt hätte - über Erziehungsstile, Kinderzeit und echte Teilhabe. Andere Eltern- andere Sitten Wenn ich durch Marie eines gelernt habe, dann, dass man nicht über einen Anderen urteilen soll. Jede Familie hat andere Stärken und Schwächen, hat andere Probleme und Ressourcen. Hier in der Rehaklinik sehe ich, wie weit das Spektrum ist ... damit meine ich nicht die Kinder, sondern die Eltern. Sie unterscheiden sich substanziell von der Blase, in der ich mich zu Hause befinde und es fällt mir wirklich schwer, sie nicht zu bewerten. Wer weiß, wie ich in ein paar Jahren als Mutter