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Über Herzenswünsche

Photo by rawpixel.com from Pexels
Auch wenn ich mich nicht als klassisch gläubigen Menschen bezeichnen würde, habe ich mir angewöhnt abends zu beten. Ich übe mich darin, dankbar zu sein für die schönen Momente des Tages und Wünsche zu formulieren für die kommende Zeit. Es ist mein Versuch achtsam zu sein - und nicht selten schlafe ich darüber ein ;-)

Noch bevor mir klar wurde, dass Marie sich anders als ihre Gleichaltrigen entwickelt, schloss ich jedes Gebet mit "Ich wünsche mir, dass meine Kinder mit 80 Jahren glücklich und zufrieden auf ihr Leben zurückschauen werden". Mir gefällt diese Vorstellung: Zwei alte Damen, zufrieden auf der Bank sitzend, die im besten Fall noch immer miteinander verbunden und füreinander da sind. Schlussendlich ist es mir egal, wie sie auf diese Bank gelangen - ob sie Abitur machen oder die Schule abbrechen, ob sie eine Großfamilie gründen oder kinderlos bleiben, ob sie ihr Lebensglück in einem Partner (oder einer Partnerin) finden oder doch vielleicht in einer kuscheligen Katze... solange sie am Ende auf dieser Bank sitzen und lächeln, werde ich zufrieden sein. 

Ich bete seit der Grundschule. Als Kind betete ich für gute Noten, für Lob, dafür, dass mich Andere mochten und vielleicht sogar nur dafür, beim Ballverstecken in der Kindergruppe den Ball wegschießen zu können. Irgendwann hatte ich den Gedanken, dass ich mit der Zeit mein Wünschekonto aufgebraucht haben könnte und wurde sparsamer. Ich betete für die damals wichtigen Dinge: Dass meine Mutter vom Krebs geheilt würde und dass meine erste große Teenie-Liebe mich zurücknähme. Mein erster Wunsch ging in Erfüllung, mein zweiter nicht.

Auch wenn ich nicht per se an das Wünschekonto glaube, so versuche ich trotzdem weiterhin meine Wünsche danach auszuwählen, ob sie mir wirklich wichtig sind. Ob sie tatsächlich dazu führen, dass meine Kinder am Ende glücklich sein werden. 

Ich wünsche mir nicht, dass Maries Autismus irgendwann geheilt sein würde. Ich glaube, wenn es um die Frage geht, ob man glücklich ist, spielt es keine Rolle, ob man autistisch oder neurotypisch ist. Was ich mir aber von Herzen wünsche, ist, dass meine Töchter stets ein Umfeld haben werden, das sie liebt und achtet, das sie unterstützt und tröstet. Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der sie so sein dürfen, wie sie sind. Ich wünsche mir, dass sie dort Hilfestellung bekommen, wo sie sie brauchen und dort selbst Verantwortung übernehmen, wo sie es können.

Ich wünsche mir, dass ich ihnen eine gute Mutter sein kann, dass meine Kinder jederzeit spüren, dass ich für sie da bin. Dass ich die richtigen Entscheidungen treffe. Dass ich sie da fördere, wo es hilft und sie da in Ruhe lasse, wo sie es brauchen. Ich wünsche mir, dass ich das packe. Ich wünsche mir 1000 bunte Heliumballons, die meinen Rucksack voller Sorgen ein wenig anheben, damit ich ihn leichter tragen kann. Ich wünsche mir, ich Ruhe bewahre, wenn es nötig ist und mein Kämpferherz schlagen lasse, wenn es benötigt wird. Dass meine Gedanken zu Ruhe kommen und ich gelassener werde. Ich wünsche mir, dass ich meinen Kindern ein Vorbild sein kann, nicht nur, aber auch, wie man glücklich sein kann. 

Ja, ich wünsche mir, dass meine Kinder mit 80 Jahren glücklich und zufrieden auf ihr Leben zurückschauen werden.Aus vollstem Herzen. Immer.

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