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Vertrauen

Photo by Levi Damasceno from Pexels
Normalerweise gehe ich mit den Mädels auf unseren Standardspielplatz. Übersichtlich, schattig und für uns am wichtigsten: Mit Zaun. Leider ist dieser aber bei schönem Wetter komplett überfüllt und ich gestresst- während Paula auf das große Klettergerüst klettert, nimmt Marie den Puppenwagen eines anderen Kindes auseinander... das wollte ich mir diesmal nicht geben, weswegen wir auf einen Waldspielplatz gingen. Wunderschöner Spielplatz, nur eben auch sehr weitläufig.

Ich weiß, wie wichtig es ist, Vertrauen in die Kompetenzen meiner Kinder zu haben. Dass Eltern ihren Kindern etwas zutrauen sollen. Dass Kinder die Freiheit brauchen, auf ihre Art und in ihrem Tempo die Welt zu entdecken. Nur: ganz so einfach ist es für uns eben nicht. Und genau das habe ich bei diesem Spielplatzaufenthalt gespürt.

Vertrauen in Maries Fähigkeiten

Marie kann viel. Sie ist motorisch echt fit und auf schwierigen Klettergerüsten sucht sie meine Aufmerksamkeit, bevor sie die schweren Teile angeht. Das ist absolut großartig! Für andere Gefahren (aka Straßenverkehr) hat sie leider noch kein Gespür. Wenn sie etwas interessiert, dann rennt sie dorthin - diese Kind ist scheiße schnell! - und hört in diesen Momenten weder auf "Stop" noch ihren Namen. Straßen, Flüsse (Wasser hat ohnehin eine magische Anziehungskraft auf sie)  und andere Gefahrenquellen müssen also wirklich gesichert sein. Wer ein nicht neurotypisches Kind hat, weiß, dass "wirklich gesichert" auch "wirklich, wirklich gesichert" heißen muss. 

Auf dem sehr großen Waldspielplatz wollten beide Mädels erst mal rennen und ihr eigenes Ding machen. Eigentlich finde ich das toll! Ganz ehrlich: Ich an ihrer Stelle hätte auch nicht gerne immer eine Mama am Rockzipfel kleben (rw). Mit dem Ausgang (zur einer Hauptstraße natürlich...) im Blick ließ ich sie also los. Ich versuchte meine Anspannung zu verstecken, aber richtig entspannt sein geht mit zwei Kleinkindern nicht so recht. 
Und dann das Schönste (ein echter #Jubelmoment sogar): Marie rennt einen abschüssigen Weg hinunter, kehrt um und rennt wieder hoch. Und jedes Mal, wenn sie oben angekommen ist, sucht sie meinen Blick und vergewissert sich, dass ich da bin. Mein Horrorszenario (Kind rennt weg, ich suche sie und zack ist sie aus dem Spielplatz draußen und auf der Hauptstraße) tritt nicht ein. Im Gegenteil: Marie vertraut auf mich und meine Ruhe. Um diesen Moment perfekt zu machen, beginnen Paula und ein weiteres Kind Marie nachzueifern und am Ende rennen drei Kinder freudestrahlend und kreischend den Berg auf und ab.

Vertrauen auf besonnenes Verhalten Anderer

Wenn ich also die wirklichen Gefahrenquellen im Blick behalte, könnte ich meine Kinder raus in die Welt schicken, ihre eigenen Abenteuer erleben lassen, um mit der ein oder anderen Schramme, dafür aber mit vollen Herzen, nach Hause zu kommen. Aber wieder: so einfach ist es eben nicht.

Ich hatte ja bereits erwähnt, dass Marie ein sehr neugieriges Kind ist. Sie findet aufwändig erbaute Sandburgen spannend, genauso wie Puppenwagen, Roller und alles andere, was Kinder so mit auf den Spielplatz nehmen. So kann es eben sein, dass sie ein solches Objekt entdeckt und es ausprobieren möchte. An richtig guten Tagen sucht sie mich, zeigt es mir und wir können es gemeinsam betrachten. An den allermeisten Tagen legt sie aber direkt los, was - ihr könnt es erahnen -  nicht immer Applaus von anderen Kindern und Eltern erntet. Ich persönlich habe die Haltung "Wenn ihr etwas mit auf den Spielplatz bringt, geht davon aus, dass auch andere Kinder damit spielen wollen.", aber ich sehe natürlich auch, dass eine Lieblingspuppe nicht unbedingt von Marie entführt werden sollte.

So kommt es also zu einer Interaktion zwischen Marie und der Person x. Person x weiß nicht, dass Marie Autistin ist und nicht spricht, fordert daher unrealistische Dinge ein. Die meisten Menschen sind noch nicht mal direkt unfreundlich, aber wenn ich sehe, wie überfordert Marie ist, wenn zu ihr jemand sagt: "Da musst du aber erst mal fragen!", dann tut es mir weh. Wenn Marie darüber hinaus Ablehnung erfährt, ist es für mich schwer auszuhalten.

Bin ich in diesen Situationen rechtzeitig zur Stelle, können wir oft eine geleitete positive(re) Interaktion schaffen. Gleichzeitig haben wir wieder eine umgedrehte-Rockzipfel-Situation- ich, die ich meiner Tochter scheinbar nicht zutraue, so etwas alleine zu meisten. Genau genommen traue ich es aber Marie durchaus zu, nur eben der anderen Person nicht.

Solange wir in einer Gesellschaft leben, in der wir kein Gespür für Andersartigkeit haben, wird es meine Tochter schwer haben. Meiner Tochter zu vertrauen scheint mir dagegen nahezu ein Kinderspiel.

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