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Über Hurrikan- und Tsunami-Tage

Photo by Johannes Plenio from Pexels
Zur Zeit ist ziemlich viel los bei uns: Marie und Paula haben sich kurzfristig für eine gemeinsame, intensive Trotzphase entschieden. So richtig mit allem Pipapo: Auf den Boden werfen, schreien, heulen und um sich schlagen. Alles Verbotene hat eine magische Anziehungskraft und jede Regel wird hinterfragt. Hinzu kommt mein Wiedereinstieg in eine Psychotherapie-Praxis in zwei Wochen. Als der Termin noch in weiter Ferne lag, war meine Vorfreude riesig, mittlerweile überwiegt deutlich das Lampenfieber. Obendrauf beschäftigt uns die Frage, in welchen Kindergarten Marie im Sommer wechseln soll und die Entscheidung fällt uns wirklich schwer.

In solchen Phasen merke ich immer wieder, dass es Tage gibt, die ich - wie ich finde - meisterhaft bewältige und andere, an denen ich mich völlig überfordert und hilflos fühle. Ich nenne sie die Hurrikan- und Tsunami-Tage.

Die Hurrikan-Tage 

Manchmal kommt alles zusammen. Die Kinder streiten sich, sind unzufrieden, laut, wütend, müde. Eine fiese Mischung aus allen anstrengenden Emotionen, die bewältigt werden wollen, und dafür erst mal lautstark ausgelebt werden. Marie und Paula sind keine zehn Minuten zu Hause und unsere Wohnung versinkt schon im Chaos (wie bekommen die das nur so schnell hin?!). Zielsicher bringen sie die unmöglichsten Dinge zustande und bringen sich (und unsere Inneneinrichtung) in Gefahr. Sie wollen essen, trinken, kuscheln, alles gleichzeitig und am besten sofort.

Und ich bin: ruhig. Wie die Mitte eines Hurrikans bin ich still, fast gelassen. Ich beobachte die Situation, setze die richtigen Prioritäten (schnell ein Quetschie gegen den ersten Hunger, währenddessen alle Gläser in Sicherheit) und manövriere uns so durch den Alltag. Ganz ehrlich: In diesem Zustand fühle ich mich wie Wonder Woman. Ich ermahne, erkläre, tröste. Ich setze die Kinder in den Kinderwagen (einander gegenübersitzend, damit sie sich nicht die Köpfe einschlagen), gehe spazieren. Es sind keine guten Tage, aber irgendwie machen wir das Beste draus.

Die Tsunami-Tage

Photo by GEORGE DESIPRIS from Pexels
Und dann gibt es die anderen Tage. Die Tage, an denen ich eine Zerstörungswelle auf mich zurasen sehe und ihr nichts entgegenzusetzen vermag. Sie reißt mich mit und ich gehe unter in dem Chaos, dem Lärm, den Ansprüchen meiner Kinder. Während ich noch versuche irgendwie die Kontrolle zu bewahren, merke ich, wie ich keine klaren Gedanken mehr fassen kann, außer: "Ich pack das nicht." Mir ist dann alles zu viel, ich sehe nur noch die Probleme, die Defizite. Ich bin wütend, auf mich, auf die Welt und ja, auch auf das Verhalten meiner Kinder. Warum muss Marie ihr Essen durch die Gegend schmeißen? Sie weiß doch, dass sie das nicht soll! Und Paula? Wieso kann sie nicht einen kurzen Moment warten? Ich komme doch schon! Am liebsten würde ich mich unter meiner Bettdecke verkriechen. Oder alternativ: Paulas hollywood-reifen Trotzanfall nachahmen. Mich auf den Boden werfen und schreien. Ich will weg, fühle mich dem Ganzen nicht gewachsen. "Ich kann das nicht." Ich merke, wie ich in meinen Gefühlen ertrinke, meine Kinder anfauche und mir die Tränen übers Gesicht laufen. Die Minuten fühlen sich wie Stunden an.

Egal, ob Hurrikan- oder Tsunami-Tag, jeder Tag geht irgendwann vorbei. Ich bin so wahnsinnig erschöpft und müde. Ich warte auf Tim, der Mensch, der am besten nachfühlen kann, wie es mir an so einem Tag geht. Der genau weiß, was ich jetzt brauche. Ein Glas Wein, Kopf kraulen. Vielleicht lassen wir uns Sushi liefern. Tim sagt mir all die Dinge, die ich so sehr hören muss- er erzählt mir über die Fortschritte, die wir machen, über die schönen Momente, die wir selbst in schwierigen Phasen haben. Und: Dass nach jedem Unwetter die Sonne wieder scheint.

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