Direkt zum Hauptbereich

Drei Aussagen, die ich als Mutter einer autistischen Tochter nicht mehr hören kann


Immer wieder höre ich Aussagen, die nie böse gemeint sind, die mich aber doch ärgern, verletzen oder irritieren. Ich weiß, dass mach Einer unser Leben anders gestalten würden (ich seines in der Regel auch ;-)), denn jeder Mensch hat seine eigene Sicht auf die Dinge. Diese drei Aussagen haben es aber in unsere Top 3 der Nett-gemeint-trotzdem-doof-Sätze geschafft und ich möchte sie euch heute mit besseren Alternativen vorstellen.

"Xy hat auch noch nicht mit 3 Jahren gesprochen."

Ich liebe Mutmach-Geschichten! Lese ich in Foren von anderen Kindern, die mit fünf Jahren anfingen zu sprechen und seitdem ihren Eltern die Ohren abkauen (rw), freue ich mich riesig! Wird der zehnjährige Sohn zum ersten Mal zu einem Kindergeburtstag eingeladen, fließen bei mir die Freudentränen. Es gibt so viele Geschichten, die inspirierend sind, die Mut machen und die auf so rührende Weise verdeutlichen, wie unterschiedlich Entwicklungen verlaufen und wie viel Potenzial in jedem steckt.
Was ich aber überhaupt nicht leider kann, ist, wenn Personen mir Weisheiten erzählen, in denen unterschwellig mitschwingt, dass Marie doch normal ist, dass alles "gar nicht so schlimm ist". Gebetsmühlenartig muss ich immer und immer wieder erklären, dass es uns nicht darum geht, dass Marie noch nicht spricht. Vielmehr war und ist ihre ganze Art zu denken, wahrzunehmen und zu kommunizieren anders. Das heißt nicht, dass sie sich nicht entwickeln wird. Nur bitte seht, dass es im Hier-und-Jetzt eine ganze Reihe von Baustellen gibt und sich Autismus nicht auf eine Eigenart reduzieren lässt. 

Wie kann man es besser ausdrücken: Wie gesagt, ich liebe Mutmach-Geschichten. Und ich finde es toll, wenn Maries Umfeld ihr Potenzial und ihre Möglichkeiten erkennt und mit uns mitfiebert. Nur bitte, reduziert mein Kind nicht auf einzelne Probleme, sondern nehmt sie als Ganzes wahr.

"Marie muss auch mal Kind sein dürfen."

Diese Aussage habe ich schon von unterschiedlichsten Seiten hören dürfen und ganz ehrlich, es fällt mir schwer, sie zu verstehen. Ich weiß nicht, was sie bedeuten soll. Wann in unserem Alltag darf Marie denn nicht Kind sein? 
Ich kann nachvollziehen, wenn man sich sorgt, dass Maries Förderung zu viel für sie sein könnte. Marie braucht Zeit um Neues zu verarbeiten, genau wie jedes Kind. Ich würde aber sagen, dass Marie gerade in ihren Therapien so viel Kind sein darf wie kaum in einem anderen Kontext. Denn genau in diesen Einheiten wird an ihren Interessen, Bedürfnissen und Fähigkeiten angesetzt. Da darf sie sich ausprobieren, da schenkt ihr jemand uneingeschränkte Aufmerksamkeit. 

Freies Spiel ist für alle Kinder enorm wichtig. Was man aber nicht vergessen darf: Wenn Marie frei spielt, sieht das meist so aus, dass sie sich ihren Sonderinteressen widmet und sie mir diese zeigen will. Was mache ich also? Ich setze mich zu ihr und wir erforschen gemeinsam die Kabel, Router und Steckdosen dieser Welt. Sie will nicht alleine sein und genau da setzt Förderung an. Wir kommunizieren, wir teilen. Bedürfnisorientiert sein sieht bei einem autistischen Kind möglicherweise anders aus als bei einem neurotypischen. 

Wie kann man es besser ausdrücken: Ich würde mir wünschen, dass man nachfragt, wie es Marie denn in ihrem Alltag geht. Und wenn man Einwände oder Sorgen hat, dann wünsche ich mir, dass diese konkret ausgedrückt werden. Man könnte beispielsweise fragen: "Wie geht es Marie denn mit den Therapien? Wie gefällt es ihr da? Habt ihr den Eindruck, dass es für sie zu viel sein könnte?"

"Du musst auch mal an dich denken."

Ein Kind mit special effects zu haben kann anstrengend sein. Es erwartet einen viel Organisation, viel Anstrengung und einiges an Sorgen und Ängsten. Um Marie gerecht zu werden, haben wir unsere Familie zu einem großen Teil um ihre Bedürfnisse und Förderung gebaut. Und natürlich darf auch Paula nicht zu kurz kommen. Und Tim. Und ich. Und unsere Partnerschaft. Und unsere Freunde. Und unsere Herkunftsfamilien. Und unsere Karriere... Es stimmt also absolut: Man sollte auch an sich und andere Familienmitglieder denken.

Was Außenstehende jedoch oft vergessen, ist, dass wir vieles genau so machen, wie wir es machen, damit es allen gut geht. Wenn ich nicht Vollzeit arbeiten gehe, dann sorge ich damit auch für mich, indem ich meine Belastungsgrenze nicht überschreite (was ein Glück haben wir finanziell die Möglichkeit dazu). Wenn wir uns am Wochenende aufteilen, haben wir weniger Familienzeit, dafür aber diese besonderen Zweiermomente mit einem der Mädels. Wenn ich mein Kind zur Frühförderung bringe, dann sorge ich auch für mich, denn ich weiß, dass mein Kind Unterstützung erhält.

Wie kann man es besser ausdrücken: "Du musst"-Aussagen gehen meistens nach hinten los. Da gehe ich sofort auf Widerstand. Stattdessen wünsche ich mir, dass ich gefragt werde, was wir brauchen oder ob man helfen kann: "Gibt es etwas, was du/ ihr brauchen könntet? Können wir euch dabei unterstützen?" 

Kommentare

Beliebte Einträge

Über das Selbstwertgefühl bei (neurodivergenten) Kindern

In meiner Arbeit als Psychotherapeutin kommt bei fast allen Patient*innen früher oder später das Thema Selbstwertgefühl zur Sprache. Zu Hause als Mutter frage ich mich, wie ich meine autistische Tochter darin unterstützen kann, ein stabiles Selbstwertgefühl zu entwickeln- in einer Welt und einem Alltag, der ihr immer wieder zeigt, dass sie "anders" ist.  Eine kleine, aber wichtige Alltagsbeobachtung Letzte Woche bei der Ergotherapie beobachtete ich folgende Szene: Eine Mutter unterhielt sich in Anwesenheit ihrer ca. siebenjährigen Tochter über die Therapiestunde mit der Ergotherapeutin. "Sie hat sich heute richtig gut konzentriert", meinte die Therapeutin und die Mutter antwortete: "Oh wie schön, dann hatte sie heute also einen guten Tag."  Warum schreibe ich über diese Beobachtung und was hat sie mit Selbstwertgefühl zu tun? In der Psychologie sprechen wir von Attributionen, also von Ursachenzuschreibungen. Es ist ein spannendes Feld, denn e

Die Sache mit der Nonverbalität

Image by  Gerd Altmann  from  Pixabay   Kinder beim sprechen lernen zu beobachten macht mir riesige Freude. Paula reißt die witzigsten Sprüche ("Mama sagt nein. Ich sage doch!") und immer größer werden die Einblicke, was in ihrem kleinen Kopf alles vor sich geht. Marie ist mit ihren bald 4 Jahren noch ein ganzes Stück davon entfernt, mir auf verbalem Wege sagen zu können, was sie beschäftigt. Jeder Zwei-Wort-Satz ist hart erkämpft und bleibt für Außenstehende doch oft unverständlich. Es bedarf viel Einfühlungsvermögen, viel genaues Hinhören und manchmal auch ein wenig Fantasie, um Maries Laute und Worte in einen Zusammenhang zu bringen. Anderen Eltern ist diese Problematik bewusst und können mitfühlen. Ich glaube jedoch, dass die tatsächlichen Schwierigkeiten, die durch eine Sprachentwicklungsverzögerung entstehen, oft anders, manchmal auch größer, sind als sich Nicht-Betroffene das vorstellen können. "Nur weil Marie nicht spricht, heißt es nicht, dass sie dich

Kliniktagebuch: Wochen 2 und 3: Ein Zwischenfazit

Nun ist die Reha schon fast wieder vorbei. Mittlerweile sind wir gut im Klinikalltag ankommen, auch wenn Marie häufig wenig Lust auf die Angebote hat und lieber kuscheln möchte. Durch liebevolles Zureden, Bildkarten und Erklärungen lässt sie sich aber meistens doch auf die Aktivitäten ein und hat dann viel Spaß daran. Auch sonst habe ich einiges beobachten und erfahren dürfen, was ich sicher ohne Reha nicht erkannt hätte - über Erziehungsstile, Kinderzeit und echte Teilhabe. Andere Eltern- andere Sitten Wenn ich durch Marie eines gelernt habe, dann, dass man nicht über einen Anderen urteilen soll. Jede Familie hat andere Stärken und Schwächen, hat andere Probleme und Ressourcen. Hier in der Rehaklinik sehe ich, wie weit das Spektrum ist ... damit meine ich nicht die Kinder, sondern die Eltern. Sie unterscheiden sich substanziell von der Blase, in der ich mich zu Hause befinde und es fällt mir wirklich schwer, sie nicht zu bewerten. Wer weiß, wie ich in ein paar Jahren als Mutter